Wort zum Sonntag: Pfarrer Wigbert Scholle von der Bonifatiuskirche in Gotha über das Evangelium als Schlüsseltext.

In der Mathematik verändert ein Vorzeichen, das man vor eine Klammer setzt, den Wert sämtlicher Zahlen, die in der Klammer stehen. Ähnlich bestimmt bei einer Partitur der Notenschlüssel die Tonhöhe sämtlicher Noten, die folgen. Entsprechendes gibt es auch in der Literatur. Literarische Werke sind ja nicht selten genauso sorgfältig komponiert wie ein Musikstück.

Und es kann sein, dass der Autor, mit einem Schlüsseltext zu Beginn seines Werkes, den Stellenwert aller folgenden Texte definiert – ähnlich wie in der Mathematik das Vorzeichen und in der Musik der Notenschlüssel. Das Evangelium, das wir an diesem Sonntag in unseren katholischen Gottesdiensten vorlesen, ist solch ein Schlüsseltext.

Wir hören vom ersten öffentlichen Auftreten Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth. Dort besucht er am Sabbat die Synagoge und wird im Verlauf des Gottesdienstes aufgefordert die Schriftlesung vorzunehmen. Er liest einen Text aus dem Jesajabuch und sagt anschließend seinen Zuhörern: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ (Lk 4,21)

Welches Schriftwort? „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringen, damit ich die Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4,18f, siehe Jes 61,1f)

Ein wirklicher Schlüsseltext, der die Mitte der Sendung Jesus beschreibt. Jesus weiß sich als der Gesalbte und er heilt Menschen. Wir dürfen diese Sätze aber nicht nur historisch verstehen. Besonders deutlich wird das beim Wort, wonach Jesus „den Gefangenen die Freiheit zu verkündet.“ Hier geht es natürlich nicht um Kriminelle, sondern um Menschen, die aufgrund von Schicksalsschlägen, zum Beispiel durch Krankheit oder Missernte, unverschuldet zahlungsunfähig wurden und nun in Schuldhaft sitzen.

Wohl schon Jesaja, auf jeden Fall aber Lukas, sieht darin mehr als nur Menschen, die finanzielle Schulden haben. Es geht ihnen auch darum, dass Gott nun allen Menschen die Schuld erlässt. Er macht einen neuen Anfang. Er führt in die Freiheit.

Und so wie Gott sein Volk Israel durch Mose aus Ägypten in die Freiheit führte, und so wie Gott durch Jesus Christus den Armen und den Belasteten in Freiheit setzte, so führt Gott auch uns immer wieder in die Freiheit, auch in die Freiheit vom eigenen Egoismus.

Wigbert Scholle ist Pfarrer der katholischen Kirchgemeinde in Gotha.