Eine Geschichte unter jedem Grabstein

Marie-Luis Zahradnik
| Lesedauer: 4 Minuten
Grab von Adolf Eisner auf dem jüdischen Friedhof in Nordhausen.

Grab von Adolf Eisner auf dem jüdischen Friedhof in Nordhausen.

Foto: Marie-Luis Zahradnik

Nordhausen.  In einer Serie berichtet die TA über zentrale Orte jüdischen Lebens im 19. Jahrhundert. Heute: Erinnern im November

Zum Leben gehört auch das Sterben. Doch wird in jeder Kultur und Religion auf eigene und besondere Weise um den Verlust eines Menschen getrauert. Um dem Schmerz einen Ausdruck zu geben und zu bewältigen, auch gegen das Vergessen eines geliebten verstorbenen Menschen, helfen Begräbniskultur, Grabsteine und ein stiller Ort zum Trauern und Gedenken. Heute kann der jüdische Friedhof in Nordhausen als solcher nicht mehr genutzt werden, da dieser seit Dezember 2007 unter Denkmalschutz steht.

Der jüdische Friedhof wurde am 1. September 1828 eingeweiht. Aus Platzmangel wurde die Anlage in den Jahren 1854 und 1865 durch den weiteren Kauf von Land vergrößert. Damit hatte der Friedhof eine Größe von etwa 5000 Quadratmeter. Auch das neu dazu gekaufte Land wurde durch eine Mauer geschützt. Das gesamte Friedhofsareal bekam ebenso einen neuen Eingang mit Allee in Richtung Westen. Zwei Jahre nach dem letzten Grundstückskauf wurden 1867 ein Leichenhaus und ein Stall auf dem Gelände erbaut.

In der Folgezeit wurde das Leichenhaus als Wohnhaus an den jeweiligen zuständigen Friedhofswärter und dessen Familie vermietet. Das Haus wurde bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg an Dach, Wänden, Türen und Fenstern beschädigt. Am 30. August 1900 bat die Synagogengemeinde die Polizeiverwaltung um eine Bauerlaubnis für eine Wartehalle auf dem jüdischen Friedhof. Die geplanten Baukosten sollten den Wert von 4000 Mark nicht überschreiten. Nach Vorlage der Bauzeichnung konnte der Bau mit der erteilten Erlaubnis im September 1900 beginnen. Bereits im Oktober war der Rohbau beendet und zur Abnahme freigegeben. Im Januar 1901 war der Bau fertiggestellt. Im August 1928 wurde für die Anhänger der Feuerbestattung nach dem Plan des Stadtgartendirektors Rotscheid ein Urnenhain angelegt. Im hinteren Bereich des Friedhofs durch eine Hecke abgetrennt führen Treppenstufen zum Urnenhain hinunter, auf dem Grabsteine in einer ovalen Beetform aufgestellt sind. Es handelt sich dabei um einen unterirdischen Urnenhain. Zwar ist durch die abgelegene Lage eine Separation entstanden, doch durfte der Hain als Bestandteil vom Friedhof nicht abgegrenzt werden.

Sogenannte Beerdigungsbruderschaften, Chewra Kaddischa, unterstützen die Hinterbliebenen eines männlichen Verstorbenen bei den rituellen Aufgaben und bei der Organisation der Bestattung. Ist der Leichnam weiblich, so wurden diese Aufgaben von einem Frauenverein übernommen. In den 1880er Jahren führte der damalige Rabbiner Dr. David Leimdörfer eine Liturgie speziell für Beerdigungen in der Synagogengemeinde ein. Ebenso gab es auch ein „Reglement für den Beerdigungs-Verein der Synagogengemeinde zu Nordhausen“. Jeder der rund 224 Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Nordhausen ist ein Stück weit Geschichte und unter jedem Grabstein verbirgt sich eine Geschichte.

Die Grabsteine bezeugen religions-, kultur- und sprachgeschichtliche Wandlungen von Formen und Inhalten. In der südlichen Hälfte der Friedhofsanlage sind die älteren Grabsteine traditionell rein hebräisch beschriftet, häufig in hebräischer Quadratschrift. Rund 146 Grabsteine haben eine hebräische und deutsche Inschrift. Einen rein in Deutsch verfassten Text haben 115 Steine. Auf einigen Grabsteinen sind Amts- und Abstimmungssymbole abgebildet wie Levitenkanne, segnende Hände oder ein aufgeschlagenes Buch.

Ohne die noch vorhandenen Quellen wäre ein Teil des städtischen Gedächtnisses verloren gegangen und der gedankliche Rundgang durch die geschichtlichen Orte nicht möglich gewesen. Vielleicht wären die vor dem Vergessen zu bewahrenden Orte heute noch in unserem Stadtbild präsent und könnten vom Miteinander berichten, hätte es nicht das Pogrom und den Zweiten Weltkrieg gegeben.

Die Autorin ist Historikerin aus Nordhausen. Weiterführende Forschungsergebnisse zur jüdischen Gemeinde in Nordhausen im 19. Jahrhundert nebst ausführlichen Quellenangaben finden sich in ihrer im Verlag der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung erschienenen Dissertation „Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens. Chancen und Grenzen der Integration der Nordhäuser Juden im 19. Jahrhundert“.