Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Bodo Ramelows Vorstoß zu interpretieren, den Lockdown in Thüringen am 6. Juni zu beenden. Der Newsletter vom Montag.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

das Thüringer Kabinett berät Anfang dieser Woche darüber, nur noch Empfehlungen auszuprechen und keine weitere Verordnung in Kraft zu setzen. Uns stehen politisch turbulente Tage bevor. Starten wir in die letzte Maiwoche.

Rückblick

Aus einem Paradox wird ein pandemiepolitisches Dilemma

Thüringen hat es wohl selten so oft in die bundesweite wie internationale Berichterstattung geschafft, wie in den letzten Monaten. Erst die Landtagswahl, dann die Ministerpräsidentenwahl, die Thomas Kemmerich (FDP) zum Kurzzeit-Regierungsoberhaupt machte, dann die Wiederwahl Bodo Ramelows (Linke) und jetzt sind wir erneut in den Schlagzeilen.

Bodo Ramelow hat mit seinem Plan, der bis 5. Juni geltenden landesweit gültigen Verordnung keine weitere folgen zu lassen und nur noch Empfehlungen auszusprechen, ein gewaltiges Echo hervorgerufen. Kein Mindestabstand mehr, kein Mundschutz, keine Beschränkungen für Veranstaltungen. Nichts.

Für Verwunderung haben seine Äußerungen gegenüber der Thüringer Allgemeinen vor allem auch bei den der Minderheitsregierung angehörenden Landtagsfraktionen gesorgt. Denn sie hatte er vorab nicht informiert. Ja, alle Fraktionen. Auch die der Linke. Von Vertrauensbruch ist die Rede. Ein Stresstest für die Regierungskoalition.

Die Grünen etwa schreiben auf Twitter: „Die Thüringer haben ein Recht auf abgestimmtes Regierungshandeln. Das schafft Vertrauen, angesichts der öffentlichen Diskussionen.“

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Aber so ein Handeln kennen wir bereits. Sie erinnern sich an das Gespräch zwischen ihm und Mike Mohring (CDU) im Vorfeld der Ministerpräsidentenwahl, die unter Beteiligung von Joachim Gauck zum Thema Projektregierung stattfand? Auch damals agierte er allein. Immer mit dem Verweis, er handele als Regierungschef, nicht als Mitglied der Fraktion.

Doch was ist der Plan hinter seinem jüngsten Vorstoß?

Ja, wir leben seit Wochen in einem Paradox, wie ich es hier schon einmal beschrieb: Die Infektionszahlen sinken durch für viele existenzbedrohende Maßnahmen. Zugleich mehren sich Stimmen, die aufgrund der niedrigen Zahlen die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in Frage stellen. Es sei doch alles gar nicht so schlimm. Warum also die Wirtschaft gegen die Wand fahren und Menschen so verängstigen, dass sie sich aus Sorge vor einer möglichen Ansteckung nicht trauen, mit anderen Krankheiten zum Arzt zu gehen? Stichwort Kollateralschäden, die höher sind als die Schäden, die durch das Virus selbst verursacht werden. Jetzt wird dieses Paradox zu einem pandemiepolitischen Dilemma.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Vorstoß (mit Folgefragen) zu interpretieren:

  1. Er ist angesichts der Fallzahlen vernünftig, weil so lokal über Maßnahmen entschieden wird und nicht ein ganzes Bundesland wegen einzelner Hotspots heruntergefahren wird. Aber sind genügend Tests und Testkapazitäten für ein Monitoring vorhanden? Gäbe es nicht einen unüberschaubaren Flickenteppich? Überbieten sich bald Kommunen bei Lockerungen wie zuletzt die Bundesländer?
  2. Der Vorstoß soll Verschwörungstheoretikern, Extremisten und Kritikern, die auf Demonstrationen das Grundgesetz vor sich hertragen und auf ihre verfassungsmäßigen Rechte pochen, die Argumente nehmen. Denn Grundrechtseinschränkungen wären so wieder zurückgenommen. Aber ist die politische und gesellschafltiche Gefahr durch die Demonstranten, die in Relation zur Bevölkerungszahl nur 0,1 bis 0,2 Prozent der Thüringer repräsentieren, wirklich so hoch, dass man dafür Auswirkungen auf Leib und Leben aller Menschen in Kauf nimmt?
  3. Ramelow will seine Partei stärken, indem er den Krisenstab auflöst, der im von der SPD (Georg Maier) geführten Innenministerium angesiedelt ist und durch ein Krisenmanagement im Sozialministerium ersetzen, das von Heike Werner (Linke) verantwortet wird. Zoff gab es nämlich schon bei der Einrichtung des Krisenstabes, für dessen Führung damals Staatskanzleichef Benjamin Hoff (Linke) wohl Anspruch angemeldet hatte. Aber stört das nicht weiter den Koalitionsfrieden? Widerspricht das nicht Ramelows Vorgehen als Regierungschef, der zum Wohle Thüringens handelt - ungeachtet des Parteibuches? Werfen nicht doch schon die nächsten Wahlen ihre Schatten voraus?
  4. Der Vorstoß soll von bereits vorhanden Spannungen in der Minderheitsregierung ablenken und für andere Schlagzeilen sorgen. Immerhin wussten weder Linke, SPD noch Grüne von der Idee Ramelows. Es wurden also alle gleichbehandelt. Aber es ergeben sich ähnliche Folgefragen wie in Punkt 3.
  5. Die öffentliche Ideenfindung ist eine Art Marktforschung. Durch eine angestoßene Debatte würde Ramelow genügend Rückmeldung aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Bevölkerung erhalten, inwiefern derartige Maßnahmen Zustimmung fänden.
  6. Ramelow will Handlungsfähigkeit beweisen oder zumindest Handlungswillen bekunden, nachdem Bürgermeister und Landräte mehr im Fokus standen als er selbst. Aber stellt er damit nicht alle bisher getroffenen Entscheidungen, die zu den gegenwärtigen Zahlen geführt haben, in ihrer Härte infrage?

Kommt dieser Plan nicht ohnehin zur Unzeit? In Leer und Frankfurt erleben wir gerade, dass das Virus immer noch da ist und jede Gelegenheit nutzt, um sich weiter auszubreiten. Ein Appell an die Vernunft der Bevölkerung ist grundsätzlich richtig. Aber in diesem Fall auch sehr riskant.

Und, es ist doch so: Die Landesregierung würde so die Verantwortung den Landkreisen, Städten und Kommunen sowie Gesundheitsämtern zuschieben.

Ohne Mundschutz im Stadtrat

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Der Auftritt von Wiebke Muhsal im Jenaer Stadtrat sorgt für Wirbel: Die AfD-Frau nahm ohne einen Mund- und Nasenschutz an der Sitzung teil und führte dabei ein ärztliches Attest an. FDP-Stadtrat Clemens Beckstein bezeichnete Muhsals Verhalten dennoch als „a-sozial im Wortsinne“. Letztlich kam es zu einer Diskussion, warum Muhsal mit Vollverschleierung im Landtag provozierte, aber jetzt keine Maske tragen könne. Die AfD wies die Vorwürfe zurück.

Ausblick

BGH verkündet erstes Urteil zum Dieselskandal

Gut viereinhalb Jahre nach Auffliegen des Dieselskandals verkündet der Bundesgerichtshof heute 11 Uhr das erste höchstrichterliche Urteil. Damit entscheidet sich, ob der Hersteller VW betroffenen Autobesitzern wegen der illegalen Abgastechnik Schadenersatz zahlen muss. Die obersten Zivilrichter in Karlsruhe geben die Linie vor für die vielen Tausend noch laufenden Verfahren gegen den Wolfsburger Autokonzern. Zentrale Frage ist, ob VW wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung die Autos zurücknehmen muss. Außerdem ist offen, ob die Käufer den vollen Preis zurückbekommen oder nur einen Teil davon.

Kinder im Landtagsplenarsaal erlaubt?

Bei der Verhandlung des Verfassungsgerichts geht es um die Frage, ob die Abgeordnete Madeleine Henfling (Grüne) im August 2018 zu Recht des Plenarsaals verwiesen wurde, als sie in Begleitung ihres wenige Wochen alten Sohnes an einer Sitzung des Thüringer Landtags teilnehmen wollte. Die Urteilsverkündung ist voraussichtlich Mitte Juli.

Service

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Ich wünschen Ihnen einen unfallfreien Start in die Woche.

Ihr Jan Hollitzer
Chefredakteur
Thüringer Allgemeine

Schreiben Sie mir: j.hollitzer@thueringer-allgemeine.de