Erfurt. Sportwissenschaftler Florian Bähr bescheinigt der Mehrheit von Thüringens Grundschülern „normalgewichtig“ zu sein. Er sieht jedoch ein Problem, was durch die Pandemie noch größer geworden ist.

Aus dem Konzept Thüringer Bewegungsstrategie hat der Landessportbund vor fünf Jahren das Projekt „Bewegte Kinder = Gesündere Kinder“ entwickelt. Es soll Übergewicht bei Kindern vorbeugen. Basis ist ein Bewegungscheck für Drittklässler. Auf freiwilliger Basis der Schulen sind von den Jungen und Mädchen sechs sensomotorische Aufgaben von Einbeinstand mit geschlossenen Augen bis Sternlauf zu absolvieren. Die Ergebnisse wertet Florian Bähr aus und erstellt für jedes Kind einen individuellen Fitness-Pass. Der promovierte wissenschaftliche Mitarbeiter des Fachbereichs Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Erfurt hat Tausende Datensätze ausgewertet, sieht große Vorteile durch das Programm, einigen Handlungsbedarf und wünschte sich eine Wiederholung, gerade auch wegen der Folgen durch die Pandemie.

Fünf Jahre begleiten Sie wissenschaftlich das Projekt „Bewegte Kinder = Gesündere Kinder“ und werten die Ergebnisse aus. Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus?

Eine ganze Menge. Man muss hier in das öffentliche Interesse und die sportwissenschaftliche Sicht unterteilen. Öffentlich gesehen, kann man nach fünf Jahren sagen, dass ein Bedarf nach einem solchen Programm da ist. Mittlerweile haben mehr als 22.000 Kinder an fast 300 Grundschulen freiwillig teilgenommen. Ich bekomme auch immer wieder E-Mails von Lehrern, die das Programm großartig finden. Sie merken, dass es nicht nur ein Test ist, sondern dass das Programm die Kinder abholt und mitnimmt. Darin sehe ich den besonderen Wert für unsere Gesellschaft.

Und aus wissenschaftlicher Sicht?

Auch wenn wir bedenken müssen, dass „nur“ knapp über 50 Prozent aller Thüringer Grundschulen teilgenommen haben, können wir mittlerweile Aussagen über die Entwicklung der physischen Fitness bei Drittklässlern und deren Leistungsfähigkeit machen, ob diese altersgerecht ist, oder ob es Entwicklungsverzögerungen gibt, etwa durch Übergewicht oder die Pandemie. Damit sind wir landesweit die einzigen, die in dem Altersbereich von acht bis zehn Jahren hierzu verlässlich etwas aussagen können. Damit einher geht aber auch der verantwortungsvolle Umgang mit den sensiblen Informationen und die kritische Betrachtung durch Kollegen, bevor wir generelle Schlüsse ziehen.

In machen Landkreisen ist jedes fünfte Kind von starkem Übergewicht betroffen

Häufig fällt der Satz: Unsere Kinder sind zu dick. Stimmt das?

Bezogen auf Grundschüler ist das ist ganz klar falsch. Die Mehrheit der Kinder in diesem Alter ist normalgewichtig. Wenn man von ei­nem Problem in puncto Übergewicht spricht, dann in dieser Form: Es zeigt sich, dass in manchen Landkreisen der Anteil von stark übergewichtigen Kindern zu hoch ist. Teilweise bei bis zu 20 Prozent! Das heißt, jedes fünfte Kind ist hier zu dick. Wir reden hier von starkem Übergewicht, das also klinisch relevant ist.

Ein wachsendes Problem?

Wir sehen nur die Daten aus fünf Jahren. Anhand früherer Studien und der jüngsten Werte während der Pandemie aber lässt sich festhalten, dass es vor Jahren schon ein Problem gab, das die Pandemie verstärkt hat. Insofern kann man sagen, dass es ein wachsendes Problem ist, welches unsere Aufmerksamkeit benötigt.

Warum tritt es in Landkreise verstärkt auf?

Darüber können wir nur mutmaßen. Schauen wir uns die Landkreise an, in denen die meisten übergewichtigen Kinder leben, so gibt es einen Zusammenhang von Kinderarmut und dem prozentualen Anteil an übergewichtigen Jungen und Mädchen. Das gibt es in Städten mit einer höheren Kinderarmut so nicht. Also wäre die Vermutung, dass Kinder aus sozial schwächeren Strukturen in den Landkreisen weniger Möglichkeiten der Teilhabe besitzen, weil es infrastrukturell weniger sportliche Angebote gibt und die Teilnahme mit längeren Fahrtwegen der Eltern verbunden ist. Außerdem ist der Lehrermangel hier höher und Sportförderunterricht findet nicht statt.

Im Punkt Gleichgewicht haben Mädchen die Nase vorn

Die sechs Tests beim Bewegungscheck umfassen die Bereiche Ausdauer, Koordination, Schnelligkeit und Kraft? Was lässt sich daraus über den Leistungsstand der Drittklässler in Thüringen ableiten?

In fünf von sechs Tests sind die Jungs besser als die Mädchen. Jungs haben hier schon mehr Kraft und eine höhere Ausdauerkapazität. Interessanterweise sind Mädchen im Punkt Gleichgewicht besser. Das ist insofern sehr spannend, weil es sich dabei um eine integrative Fähigkeit handelt, wo das Gehirn eine gewichtige Rolle spielt. Daran forschen wir. Interessant ist auch, wenn man die Leistung in Zusammenhang mit dem Body-Maß-Index betrachtet.

Weil?

Danach schneiden in fünf von sechs dieser Tests übergewichtige und insbesondere stark übergewichtige Kinder deutlich schwächer ab. Sie sind im Mittel bis zu 25 Prozent schlechter, als was für sie normal wäre.

Das hätte man vorher erwarten können, oder?

Schon. Die Daten zeigen aber auch eine Tendenz. Kinder mit Übergewicht verbessern sich nicht, aber sie werden älter. Sie haben eine Leistungsstagnation. Man bedenke, was das für das einzelne Kind bedeutet, wenn es damit in diesem Alter konfrontiert wird.

Keine Diagnose, aber Angebote und Empfehlungen

An der Stelle setzt das Programm „Bewegte Kinder = Gesündere Kinder“ an?

Genau. Der Bewegungs-Check soll die Kinder zunächst für ihre Leistungsfähigkeit sensibilisieren. Danach folgen dann verschiedene Angebote, zugeschnitten auf die einzelnen Bedürfnisse. Dabei beachten wir auch, dass ein sportlich begabtes Kind andere Bedürfnisse hat als ein förderbedürftiges Kind. Mit Hilfe unserer Daten sind wir in der Lage, genau hierzu zuverlässige Aussagen treffen zu können. Das ist einmalig. Die steigende Anzahl freiwillig teilnehmender Schulen zeigt einen Bedarf, dass Kinder in unseren Grundschulen unsere Unterstützung benötigen. Das Bildungsministerium hat das erkannt und finanziert das Programm. Wir bemühen uns um mehr Aufklärung zu den Themen Bewegungsmangel, Fehlernährung, Hygiene und Übergewicht. Wir geben keine Diagnosen, das ist wichtig, aber wir geben Angebote und Empfehlungen.

Wie darf man sich diese vorstellen?

Für jedes einzelne Kind – und das sind rund 5000 pro Jahr – wird eine Auswertung der Tests erstellt. Darauf erkennt das Kind, was das Kind besonders gut kann – oder wo es Förderbedarf hat. Mit den „Tag des Sports und der Gesundheitsförderung“ etwa wird dann versucht, den Kindern gezielt nach ihren Fähigkeiten ein passendes Angebot zu unterbreiten. Die Kinder müssen sich selber aussuchen dürfen, was ihnen Spaß macht. Die Besten werden darüber hinaus zur „Talentiade“ eingeladen und können entsprechend gefördert werden, wenn sie es wollen.

Größter Vorteil liegt im Zeitpunkt

Nun könnten Eltern sagen. Was nützt mir das, wenn ich weiß, dass mein Kind übergewichtig ist. Das sehe ich, wenn ich auf die Waage schaue. Worin liegt der Nutzen?

Der größte äußert sich in dem Zeitpunkt. Ein großer Vorteil liegt darin, dass wir Kinder vor der Pubertät für das Thema sensibilisieren und abholen können, ehe sich das Problem manifestieren kann. Umso eher Bewegung in den Alltag der Kids integriert wird und das mit positiven Emotionen erlebt wird, desto eher finden sie Motive, sich langfristig sportlich zu betätigen.

Sie plädierten dafür, dass die Teilnahme verpflichtend sein sollte?

Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es wünschenswert, dass alle Schulen einbezogen wären. Der Datensatz umfasst mehr als die Hälfte dessen, was möglich wäre. Streng wissenschaftlich, besteht dadurch eine Unsicherheit. Mehr Schulen hieße mehr Sicherheit in den Aussagen. Anderseits ist es auch unser Ziel jedem Drittklässler in Thüringen die Chance zu geben, unser Angebot wahrnehmen zu können.

Gibt es Vergleichswerte aus anderen Bundesländern?

Wir sind praktisch das Schwesterprojekt von Brandenburg. Dort existiert der gleiche Bewegungs-Check seit 2009/10, ist jedoch verpflichtend. Die Ergebnisse dort sind mit unseren so gut wie identisch. Das ist bemerkenswert. Unser Ziel ist, langfristig für alle Bundesländer Aussagen treffen zu können. Das Interesse in anderen Ländern ist da, weil es viel dazu beitragen kann, Bewegungsarmut vorzubeugen.

Lassen sich Besserungen in den fünf Jahren erkennen?

Wir können derzeit noch keine säkularen Trends aufzeigen. Dafür ist es noch zu früh. Wenn das Programm jedoch weitergeführt wird, werden wir in einigen Jahren Entwicklungen der Drittklässler in Thüringen aufzeigen können.

Schulschließungen lassen zu erwartende Leistungsfähigkeit sinken

Wäre es sinnvoll, den Bewegungscheck zu wiederholen?

Das ist zumindest ein langfristiges Ziel von uns. Alle zwei, drei Jahre machte es absolut Sinn, um Rückschlüsse auf die Entwicklung der Kinder zu ziehen. Und es wäre interessant zu sehen, wie sich etwa Ereignisse wie die Pandemie auf verschiedene Altersbereiche auswirkt.

Gibt es Anzeichen, dass sich die Pandemie auf das Leistungsvermögen der Drittklässler ausgewirkt hat?

Gewöhnlich ist es so, dass normalgewichtige Kinder die besten Ergebnisse bei den Tests erzielen. In Ausdauer, Koordination und Schnelligkeit schneidet genau diese Gruppe in der Pandemie allerdings signifikant schlechter ab. Wir sehen leider Anzeichen, dass Kinder durch die Schulschließungen in der Pandemie ihre zu erwartende Leistungsfähigkeit nicht erreicht haben. Die Frage stellt sich, ob sie das wieder aufholen können. Auch deswegen wäre eine spätere Wiederholung der Bewegungschecks sinnvoll.

Zur Person: Florian Bähr, 38, stammt aus Halberstadt und lebt Jena. An der Universität in Jena betreute er das Projekt in Kooperation mit dem Landessportbund bereits und begleitet es nach dem Wechsel an die Uni Erfurt weiter.

Der Bewegungscheck:

  • Zum dem Test gehören sechs Einzeldisziplinen: Einbeinstand, 20-m-Sprint, Standweitsprung, Medizinballstoßen, Sternlauf, 6-Minuten-Lauf.
  • Der Test richtet sich an Drittklässler. Im Schuljahr 2017/2018 nahmen erstmals 49 Grundschulen freiwillig an dem Programm im Sportunterricht teil. Inzwischen sind es fast 300 Schulen.
  • Anhand der Ergebnisse erhält jedes Kind eine individuelle Auswertung auf der Grundlage eines verständlichen Wertesystems.
  • Dieses Wertesystem basiert auf einem Referenzdatensatz von rund 19.000 Drittklässlern. Der Referenzdatensatz wurde im Rahmen der wissenschaftlichen Kooperation durch die Universität Potsdam zur Verfügung gestellt.
  • Das Projekt wird vom Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport finanziert.