Gerstungen. 70 Jahre ESV Gerstungen: Eine turbulente Zeit nach dem Mauerfall. Die Fußballer kickten kurzzeitig unter göttlichem Beistand.

Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 war auch bei den Thüringer Sportvereinen nichts mehr wie zuvor. Der ESV Lok Gerstungen verabschiedete sich von seinem Vornamen Betriebssportgemeinschaft und bekam schnell die Schattenseiten der neuen Freiheit zu spüren.

Bereits während der ersten Nachwendesaison zog es acht Kreisklasse-Fußballer und einige Talente der älteren Nachwuchsteams zu hessischen Vereinen, speziell zu Nachbar SG Wildeck Obersuhl.

„Das war für uns keine einfache Zeit“, erinnert sich Norbert Wimmel, der damals als Sektionsleiter fungierte und seit nunmehr 17 Jahren den Vereinsvorsitz inne hat.

Fußballverrückter Geistlicher mit DFB-A-Lizenz

Der ESV schaffte es den Aderlass zu kompensieren und war einer der ersten hiesigen Vereine, der einen West-Trainer präsentierte. Im Sommer 1990 übernahm der Nentershäuser Otmar Neubauer die in der Kreisklasse spielende erste Mannschaft. „Da hatten wir plötzlich einen katholischen Pfarrer als Coach“, erzählt Wimmel. Der fußballverrückte Geistliche mit DFB-A-Lizenz wollte unbedingt Aufbauarbeit im Osten leisten. Er verzichtete nicht nur auf Honorar und Spritkosten, sondern spendierte auch noch Taschen, Bälle und Trikots. Die Zusammenarbeit mit dem Trainer-Unikum fand nach nur wenigen Monaten ein tragisches Ende. Während eines Testspiels erlitt der weit über die Region hinaus als „Fußball-Pfarrer“ bekannt gewordene Neubauer im Januar 1991 einen Herzschlag und starb am Spielfeldrand.

Derby-Gipfel vor mehr als 1000 Zuschauern

Ein anderes Trainer-Kapitel hatte dann fast das Zeug zum Kriminalfall. Wimmel muss bis heute mit dem Kopf schütteln, wenn er an den Abgang von Frank Persson denkt. Als dem impulsiven Coach mitgeteilt wurde, dass sich die Wege trennen würden, ließ der Geschasste nach dem Saisonfinale in Eckardtshausen im Frust die Spielerpässe mitgehen. „So etwas hatten wir auch noch nicht erlebt“, blickt Wimmel auf die skurrile Episode zurück. Erst nach einigen Telefonaten und der Zahlung einer vierstelligen D-Mark-Summe, die Persson als Abfindung forderte, habe der ESV die Pässe zurückbekommen, so Wimmel. Dabei war die Kreisliga-Saison 1994/95 mit dem Trainerduo Persson/Jürgen Freytag überaus erfolgreich. Höhepunkt war der Derby-Gipfel gegen Ortsnachbar Suhltal Fernbreitenbach, als der ESV vor mehr als 1000 Zuschauern ein wichtiges 1:1 erreichte.

Senioren-Kegler verbuchten größten Erfolg der Vereinsgeschichte

Doch trotz Kreistitels und Aufstiegs, die Chemie zwischen „Wessi“ Persson und den ESV-Kickern stimmte nicht. In den folgenden Jahren spielte die Mannschaft fast immer auf Bezirksebene. Das Team um Dennis Linke und Marcel Hub – beide waren fast zwei Jahrzehnte lang Identifikationsfiguren – bügelte zwei Abstiege (2001/2010) postwendend aus und gewann im Jahr 2000 den Westthüringer Pokal.

Den größten Erfolg der ESV-Vereinsgeschichte überhaupt verbuchten nicht die Fußballer, sondern die Senioren-Kegler, als diese sich 2015 zum Landesmeister krönten.