Dirk Pille über eine – auch ganz persönliche – Zeitreise ins Osterzgebirge.

Es war einmal eine Gegend in Deutschland, da bekam man Vorspeise und Hauptgericht gleichzeitig serviert, da regulierte man die Zimmertemperatur durch Öffnen und Schließen der Fenster, da fuhr nachts kein Taxi. Die Rede ist vom Osterzgebirge, dort wo Deutschland noch am stärksten der ehemaligen DDR gleicht.

Keine Angst, sie befinden sich nicht in einer Zeitmaschine. Das was sie gerade gelesen haben, waren die ersten Zeilen eines meiner Zeitungsartikel von der Bob-WM 1991 in Altenberg. 29 Jahre ist das her! Noch ein paar Erinnerungen aus dem antiken Schriftwerk gefällig: Am Bürgermeisteramt von Altenberg ist ein Schild angeschlagen. Jeden Sonnabend, 5 Uhr, Einkaufsfahrt nach Marktredwitz (in Bayern, d.A.). Werbetafeln, Automarken und Kaffeesorten färben ein wenig das Grau der Bergarbeiterstadt gut 40 Kilometer südlich von Dresden. In „Sächsisch-Sibirien“ sind die Vorreiter westlicher Zivilisation gerade erst eingetroffen. Die Situation für den Gast ist grotesk bis makaber.

Im ehemaligen Kinderferienlager der Edelstahlwalzwerker entblößt sich in der Disco-Kantine eine junge gehemmte Stripteasetänzerin. Die „Nachbar“ bietet fünferlei verschiedene Getränke an. Volksmusik, Modenschau und zotige Witze wechseln sich ab. Man möchte den Gästen der Bob-WM etwas Unterhaltung bieten, und alles gerät zu einer Persiflage auf eine Brigadefeier von Aktivist Schwarze Pumpe.

Achtung, jetzt sind wir im Jahr 2020: Als ich den Fernseher im Zinnwalder Lugsteinhof anschalte, erblicke ich die Werbung für eine Veranstaltung am 27. März im Hotel. Egon Krenz liest aus „Wir und die Russen – im Herbst 1989“. Auf dem Weg vom Zimmer in die Rezeption, wo auch das neue „Neue Deutschland“ ausliegt, gibt es Devotionalien aus allen Wintersportzeiten zu sehen. Im Gegensatz zu 1991 wechselt das Handy – zumindest meines Anbieters – nicht mehr ins tschechische Netz. Und sonst – ein modernes Zimmer und eine Heizung, die problemlos sich zwischen regulieren lässt.

Auch der Bürgermeister von Altenberg ist noch da. 29 Jahre älter, aber immer noch voller Energie. Im besten Englisch empfängt er die sportlichen Gäste aus aller Welt. Der junge Thomas Kirsten hatte nach der Wende die Bahn, auf der dieser Tage zum vierten Mal eine Bob-WM im Kohlgrund ausgefahren wird, quasi gerettet. Als sich bei einem Treffen in Bonn weder Land noch Landkreis zur teuren Eisschlange bekennen wollten, hob Kirsten den Finger – und hatte „Mielkes Traum“ am Hals.

Der Stasi-Chef, der immer mit Armeegeneral Hoffmann beim Bier die Medaillenzahlen von Dynamo und ASK verglich, wollte eine Bobbahn, da in Oberhof ohne echte Startstrecke nur gerodelt werden konnte. Der erste Versuch endete 1983 im Abriss. Bobpiloten wie Wolfgang Hoppe hatten nach einem ersten Versuch die entstehende Betonröhre für unbefahrbar erklärt. Die Nationaltrainer Horst Hörnlein (Bob) und Gottfried Legler (Rennschlitten) waren derselben Meinung und riefen bei DTSB-Chef Ewald an. Der Skandal war perfekt. 100 Millionen DDR-Mark in den sächsischen Waldboden gesetzt.

Es wurde neu gerechnet und viel gesprengt. Die Stasi übernahm die Kosten, die am Ende bei geschätzten sagenhaften 300 Millionen DDR-Mark lagen. Die Bevölkerung im Osterzgebirge war wütend über die Verschwendung bei dem Geheimprojekt. Bei der Eröffnung 1988 kamen aber fast zehntausend Neugierige zum ersten internationalen Rennen.

Nach der Wende schien „Mielkes Traum“ zum Albtraum für Altenberg zu werden. Doch Bürgermeister Kirsten sagte schon damals, als alles in der Zinn-Region zusammenzubrechen schien: „Diese Bahn kann unsere Fahrkarte in die Markwirtschaft sein.“ Die noch zu DDR-Zeiten vergebene Bob-WM rettete die Bahn. Hoppe siegte im Vierer mit Christoph Langen als Bremser als erste gesamtdeutsche Mannschaft. Zehntausende jubelten im Kohlgrund. Inzwischen richtete Altenberg zwanzig Welttitelkämpfe erfolgreich aus. Darunter vier für die Bobfahrer. WM-Plakate werden nicht mehr wie 1991 abgerissen. Mielkes Bahn gehört nun wirklich dem Volk.