Erfurt. Radprofi Tony Martin startet im WM-Zeitfahren – trotz Schmerzen nach seinem Sturz vor zwölf Tagen.

Als Tony Martin durch die Luft schleuderte und ihm das Blut über das Gesicht lief, hatte er sein Radsport-Jahr schon abgehakt. „Der erste Gedanke war, dass die Saison damit beendet ist“, sagt der vierfache Zeitfahr-Weltmeister über sein jähes Aus bei der Spanien-Rundfahrt, wo er vor gerade einmal zwölf Tagen auf der 19. Etappe nach einem Sturz im Feld nicht mehr ausweichen konnte und selbst zu Boden ging.

Als er nun am Sonntag mit der deutschen Mannschaft auf dem Siegerpodest die Silbermedaille im Mixedteam-Wettbewerb der Straßenrad-WM in der britischen Grafschaft Yorkshire in Empfang nahm, war er im Gesicht mit einer großen Schramme über dem rechten Auge noch deutlich gezeichnet. Die Verletzungen des 34-Jährigen waren mit 24 Stichen genäht worden. Aber vor allem die Schmerzen beim Einatmen im Brustbereich haben nun im Teamzeitfahren deutlich gemacht, dass er noch nicht wieder in Vollbesitz seiner Kräfte ist. Im WM-Zeitfahren am Mittwoch will Martin – Spitzname: Panzerwagen – dennoch auf jeden Fall dabei sein: „Wenn ich nicht krank werde, bin ich am Start. Ich mache von Tag zu Tag positive Schritte und bin hier bestens versorgt.“

Eigentlich sollte die WM den einst in Thüringen zum Weltklasse-Radprofi gereiften Zeitfahr-Spezialisten noch einmal einen Höhepunkt bescheren. Der 52,5-km-Kurs von Northhallerton nach Harrogate ist anspruchsvoll, aber viel weniger bergig als zum Beispiel bei den Weltmeisterschaften im norwegischen Bergen oder vor einem Jahr in Innsbruck, als Martin die Plätze neun und sieben belegte. „Es sind nicht die großen Steigungen dabei. Das könnte mir entgegenkommen“, sagt der Wahl-Schweizer. Entscheidend ist allerdings wohl dennoch, wie schnell sich sein Körper weiter erholen kann.

Eine Top-Platzierung in England wäre für ihn eine wichtige Bestätigung seiner Leistungsfähigkeit, nachdem sich Martin im Radsport-Jahr 2019 nach seinem Wechsel zur niederländischen Mannschaft Jumbo-Visma vor allem für Helferdienste zur Verfügung gestellt hat. So verhalf er bis zu seinem Sturz dem slowenischen Ex-Skispringer Primoz Roglic zum Vuelta-Sieg oder führte seine Equipe auf der zweiten Etappe der Tour de France in Brüssel zum Sieg beim Teamzeitfahren. „Ich fühle mich in der Mannschaft sehr wohl und ich spüre, dass viele dankbar sind für meine Arbeit.“

Noch einmal aber will der frühere Erfurter drei Jahre nach seinem letzten Triumph in Katar das WM-Podium angreifen, zumal er auf einer eher flachen Strecke nach wie vor zur Weltspitze zählt und andere Medaillenkandidaten wie Tom Dumoulin oder Chris Froome verletzt fehlen. Titelverteidiger Rohan Dennis aus Australien, der 2012 die Gesamtwertung der Thüringen-Rundfahrt gewann, hat derweil seit seinem überraschenden Aus bei der Tour de France auf der zwölften Etappe, kein einziges Rennen mehr bestritten. Als großer Favorit auf den WM-Titel aber gilt Martins Teamkollege Roglic nach dessen starken Auftritt bei der Vuelta.

So ist bei ihm die Vorfreude auf das WM-Rennen groß. Als 2014 die Tour de France in Großbritannien startete, standen Tausende an den Strecken. „Das war eine unglaubliche Euphorie. Das haben meine Ohren kaum ausgehalten“, sagt Martin beim Blick zurück. Aber all das steigert nur seine Vorfreude auf das Zeitfahren. Körperliche Schmerzen haben ihn in seiner Karriere bislang selten aufgehalten. Direkt nach der WM verabschiedet er sich in den Urlaub nach Norwegen. Dort bleibt genügend Zeit zum Regenerieren.

Radsport live im TV: heute, Zeitfahren der Frauen, 15.30 Uhr auf Eurosport