Gera. Matthias Müller hat in seiner Schiedsrichterlaufbahn viel erlebt. Im DDR-Oberliga-Spiel von Union Berlin gegen Hansa fehlte ihm eine Karte

Matthias Müller hat viel zu erzählen. Der 68-jährige Zwötzener war Fußball-Schiedsrichter und hat es als solcher weit gebracht.

Einst pfiff er 32 Partien in der DDR-Oberliga. Nach der politischen Wende stieg er zum Fifa-Linienrichter auf und war an manchem Brennpunkt des europäischen Fußballs zugegen.

„Ich bin sehr froh, dass ich das alles erleben durfte. Ich habe viel von der Fußball-Welt gesehen, stand im Nou Camp von Barcelona, im Estadio da Luz von Lissabon und im Stadio San Paolo von Neapel sowie im Stadio Olimpico in Rom an der Linie. Diese Erlebnisse werde ich nie vergessen“, verrät der gelernte Maurer, der 1971 beim damaligen Geraer Obmann Günter Franz seine Schiedsrichterprüfung ablegte.

Sein Aufstieg verlief rasant. 1973 pfiff er bereits in der Bezirksklasse, ein Jahr später in der Bezirksliga, der damals dritthöchsten DDR-Spielklasse. Im März 1975 debütierte er in der DDR-Liga beim Spiel Kali Werra Tiefenort gegen Motor Nordhausen.

„Ich war immer mit dem Zug unterwegs oder meine Assistenten haben mich mitgenommen. Ein eigenes Auto hatte ich erst ab 1984. Auch ein Telefon hatte ich nicht in der Wohnung. Die Ansetzungen kamen mit der Post oder kurzfristig per Telegramm“, erinnert sich Matthias Müller, der 1985 den Sprung in den Kreis der Oberliga-Referees schaffte.

Am 31. August 1985 pfiff er im Zwickauer Georgi-Dimitroff-Stadion die BSG Sachsenring gegen Stahl Riesa (0:2). Die Stahlwerker begleitete der Geraer in dieser Saison gleich viermal, so auch am letzten Spieltag beim BFC Dynamo.

„Die Meisterschaft war da noch nicht entschieden. Lok Leipzig und Carl Zeiss Jena hätten noch gleichziehen können. Auch das Torverhältnis war nicht eindeutig. Der Verband suchte einen unverbrauchten Referee ohne BFC-Vergangenheit und die Wahl fiel auf mich. Ich hatte keinerlei Probleme. Die Berliner gewannen 4:0 und wurden Meister“, weiß der Schiedsrichter noch heute.

Überhaupt fällt auf, welch klares Gedächtnis Matthias Müller bezüglich seiner Einsätze hat. Das Herzblut, dass er in jede Aufgabe steckte, spürt man immer noch. 1989 stand er nochmals in der Oberliga im Rampenlicht, diesmal allerdings eher unfreiwillig.

Am 18. April leitete er in der Berliner Wuhlheide die Begegnung 1. FC Union Berlin gegen Hansa Rostock. Als nach dem Seitenwechsel der Rostocker Axel Kruse seinen Gegenspieler grob foulte, wollte ihn der Geraer Schiedsrichter vom Feld schicken. Doch beim Griff in die Brusttasche stellte Matthias Müller entsetzt fest, dass der rote Karton fehlte.

„Es war so warm und ich hatte mich in der Halbzeit umgezogen, ein anderes Hemd übergestreift, aber eben die Karten nicht umgepackt“, erinnert sich der Referee, woraufhin sich folgender Wortwechsel abspielte: Kruse amüsiert: „Haste keene Karten dabei?" Müller konternd: „Nee. Aber runter musst de trotzdem.“ Der Fauxpas zog für Matthias Müller eine vierwöchige Pause nach sich. Die Tageszeitung „Junge Welt“ überschrieb ihren Spielbericht mit den Worten „Schwarzer Mann sucht rote Karte“.

1990 stand Matthias Müller vor der Wahl, entweder in der 2. Bundesliga als Schiedsrichter oder aber als Fifa-Linienrichter zu fungieren. Der Geraer entschied sich für die Assistenten-Tätigkeit. „Das war eine tolle Zeit. Ich war viel unterwegs und habe viel gesehen“, so der Unparteiische, der schon am 6. März 1990 noch mit dem DDR-Emblem auf der Brust unter Schiedsrichter Klaus Peschel beim Europapokal-Viertelfinale RSC Anderlecht gegen Admira Wacker Wien an der Linie stand.

Es folgten fast fünf aufregende Jahre. Vor 70.000 Zuschauern im Nou Camp erlebte er im November 1992 das Ausscheiden des FC Barcelona mit Trainer Johan Cruyff und Pep Guardiola in der 2. Runde des Landesmeister-Europapokals gegen den ZSKA Moskau (2:3) aus nächster Nähe. Hinterher zeigte sich der Libero der Katalanen, der Holländer Ronald Koeman als wahrer Sportsmann.

„Er kam in die Schiedsrichter-Kabine und hat uns zu unserer Leistung beglückwünscht“, erzählt Matthias Müller, als er auf den auf seinen Namen personalisierten Wimpel der Begegnung an der Wand zeigt und berichtet auch von einer gemeinsamen Zigarre nach der Partie mit Barcelonas mächtigem Präsidenten Josep Lluís Núñez.

Ende März 1994 waren sogar 80.000 Leute im Estadio da Luz von Lissabon, als Benfica im Halbfinale des Europacups der Pokalsieger den AC Parma mit 2:1 bezwang. Schiedsrichter war abermals Bernd Heynemann. Doch nicht nur mit dem Magdeburger war Matthias Müller international unterwegs, sondern hatte auch bei Karl-Josef Assenmacher, Markus Merk, Aron Schmidhuber, Wieland Ziller und Hellmut Krug die Fahne in der Hand. Nahe dran war der Geraer auch an einer WM-Teilnahme.

1994 war Matthias Müller erste Wahl unter den DFB-Linienrichtern. Doch nach dem Phantomtor von Münchens Thomas Helmer im Spiel gegen Nürnberg und der folgenden Neuansetzung lag die Fifa im Clinch mit dem deutschen Verband und entzog diesem die Assistentenstelle für das Weltchampionat in den USA.

Dennoch sammelte der Geraer auch bei Länderspielen fleißig Erfahrungen. Besonders in Erinnerung blieb das Aufeinandertreffen zwischen Belgien und Tschechien am 17. November 1993. „Es ging um die WM-Qualifikation, für die der Gastgeber noch einen Punkt benötigte. Vor dem Spiel schaute der belgische König Albert II. bei uns in der Kabine vorbei. Mir drückte er als Letzter die Hand und meinte: Das Schicksal Belgiens liegt in Ihrer Hand. Das glückliche 0:0 reichte den Belgiern am Ende, die aber ganz schön zittern mussten.“

Ein Länderspiel war auch der letzte internationale Einsatz von Matthias Müller. In Maribor begegneten sich im September 1994 Slowenien und Italien.

„Bei einem Konter schoss ein Slowene aus der Distanz. Er traf die Lattenunterkante, der Ball prallte nach unten, traf wieder die Lattenunterkante und sprang dann raus. Wegen der Schnelligkeit das Angriffs hatte ich es nicht bis auf die Torlinie geschafft und entschied laut einer Empfehlung in den DFB-Regularien nach dem Wembley-Tor von 1966 auf Nicht-Tor. Eine Fernsehkamera-Einstellung hat aber eindeutig gezeigt, dass der Ball drin war. Das war Pech für mich und die Slowenen, die gegen die Italiener mit Gianluca Pagliuca und Franco Baresi im Team sonst mit 2:1 gewonnen hätten“, hat der Linienrichter alles noch genau im Kopf.

Danach war Schluss für den Geraer als Fifa-Assistent. Die Altersgrenze von 45 Jahren hätte ohnehin ein baldiges Ende der internationalen Karriere eingefordert.

Matthias Müller blieb dem Fußball auch anschließend treu. Seinen Erfahrungsschatz brachte er zum Beispiel als Mitgründer des Geraer Oldie-Turniers ein, das seit 1999 die Zuschauer in der Panndorfhalle Jahr für Jahr im Januar begeistert und nun schon auf 22 Auflagen zurückblicken kann. Bei allen war auch Matthias Müller vor Ort.