Berlin. Die Zahl der aufgedeckten Verstöße und eingeleiteten Verfahren hat sich seit 2015 mehr als vervierfacht.

Der im Jahr 2015 eingeführte Mindestlohn gilt in der Politik als Erfolgsgeschichte – aber was sagen Zimmermädchen, Friseurinnen, Bauarbeiter oder Fleischer, die in der Praxis oft auf Druck ihrer Arbeitgeber viele Stunden extra schuften und von einer Bezahlung, wie sie im Gesetz steht, weit entfernt sind? In Speditionen, in der Landwirtschaft oder in Pflegeheimen wird die Auszahlung des Mindestlohns und von Branchen-Mindestlöhnen viel zu selten kontrolliert, weil der Zoll überfordert ist. Viele Arbeitnehmer werden so um Lohn geprellt, dem Staat entgehen Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben.

Dass der Mindestlohn in Deutschland massenhaft unterlaufen wird, belegen neue Zahlen, die die zuständige Spezialeinheit Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls für das Jahr 2018 zusammengestellt hat. Die Daten liegen unserer Redaktion vor. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) will sie am Montag bei der Jahresbilanz des Zolls präsentieren.

Handelt es sich beim Mindestlohn-Betrug um Einzelfälle?

Absolut nicht. Wie die Statistik des Zolls zeigt, werden unter anderem die Auszahlung des Mindestlohns, die korrekte Aufzeichnung von Arbeitsstunden und das vorgeschriebene Bereithalten von Unterlagen flächendeckend in vielen Branchen unterlaufen. So stieg die Zahl der Ordnungswidrigkeitsverfahren nach dem Mindestlohngesetz von 1316 Fällen im Jahr 2015 auf 6220 Fälle im Jahr 2018 – obwohl weniger kontrolliert wurde.

Wie groß ist der Schaden?

Allein die aufgedeckten Verstöße gegen Lohnansprüche oder Abgaben im Rahmen von verbindlichen Tarifverträgen verursachten 2018 einen Schaden von knapp 32 Millionen Euro. Die Summe der verhängten Verwarnungsgelder und Geldbußen betrug 20,4 Millionen Euro.

Welche Branchen sind betroffen?

Im Baugewerbe wurden 2018 rund 1150 Verfahren neu eingeleitet und knapp 1300 laufende Verfahren abgeschlossen. Das Unterlaufen von Mindestlohnvorgaben sorgte für einen Schaden von mehr als 16 Millionen Euro, die Geldbußen lagen bei 14,5 Millionen Euro. Bei der Gebäudereinigung erreichte der Schaden 4,5 Millionen Euro, gegen betroffene Firmen wurden Strafen von knapp einer Million Euro verhängt.

Wie oft kontrolliert der Zoll Arbeitgeber?

Das Risiko für Arbeitgeber, erwischt zu werden, ist gering. Führten Zöllner 2014 – im Jahr vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – noch 63.000 Arbeitgeberprüfungen durch, waren es 2018 rund 53.500. Dahinter steckt offiziell eine neue Strategie des Zolls. Weniger prüfen, dafür effektiver, stärkerer Fokus auf Problembranchen.

Ist das nicht Augenwischerei, um Personalnot zu verdecken?

Kürzlich musste die Bundesregierung auf Anfrage der Linken einräumen, dass die Zahl der durch die FKS geprüften Betriebe verschwindend gering ist. Im Jahr 2017 wurden nur 2,4 Prozent aller Betriebe kontrolliert. Am Bau wurden im Jahr 2018 gut 13.000 Arbeitgeber überprüft – bei zwei Millionen Beschäftigten in der Branche. „Alle 40 Jahre müssen Arbeitgeber in Deutschland mit einer Kontrolle rechnen – eine offene Einladung zum Rechtsbruch“, sagt Susanne Ferschl, Vizefraktionschefin der Linken im Bundestag. Experten und Gewerkschaften kritisieren seit Langem, dass der Zoll zu wenig Personal hat. Fragwürdig sei, dass bundesweite Großrazzien angekündigt würden. Der Zoll argumentiert, dies schrecke Arbeitgeber ab, die Mindestlohngesetze aus Profitgründen zu unterlaufen.

Wie viele Arbeitnehmer werden um Mindestlohn geprellt?

Es gibt nur Schätzungen. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigte, dass der Mindestlohn zu einer starken Steigerung niedriger Löhne geführt hat, aber längst nicht alle mit Anspruch ihn auch bekommen. So hätten 2016 rund 1,8 Millionen anspruchsberechtigte Personen gemessen an ihrer vertraglichen Arbeitszeit unter 8,50 Euro brutto pro Stunde verdient, dem damaligen Niveau des Mindestlohns.

Wie hoch ist der Mindestlohn?

Der Mindestlohn, der seit 2017 8,84 Euro pro Stunde betrug, ist zum 1. Januar 2019 auf 9,19 Euro gestiegen. Zum 1. Januar 2020 wird er auf 9,35 Euro angehoben. Daneben gibt es viele von Ge­werkschaften und Arbeitgebern in einem Tarif­vertrag ausgehandelte Branchen-Mindestlöhne.

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