Sie war die erste unabhängige Tageszeitung in der DDR: Am 16. Januar 1990 erschien die erste Ausgabe der Thüringer Allgemeine. Leicht war der Weg aus der Abhängigkeit von der SED nicht, wie unsere Chronik des Wandels zeigt.

Leicht ist der aufrechte Gang nicht gefallen. Vierzig Jahre lang hatten sich die sozialistischen Machthaber in der DDR der Medien nach Gutdünken bedient, vierzig Jahre lang ließen sich Journalisten mehr oder weniger freiwillig zu ideologischen Zwecken missbrauchen. Wie ihre Leser, die im Herbst ’89 auf der Straße demokratische
Rechte einforderten, fanden auch Redakteurinnen und Redakteure ihre eigene Sprache und Zivilcourage wieder.

Es waren zunächst zaghafte Schritte, immer bedroht von den Bevormundungen und Erpressungen der sich an ihre Macht klammernden SED und später SED-PDS. Nachfolgend Auszüge aus der Chronik eines schwierigen, aber konsequenten Wandels:

Hier die erste Titelseite der TA vom 16. Januar 1990 herunterladen

HERBST 1989:

Wenige Tage nach den spektakulären Ereignissen um den 40. Jahrestag der DDR mit Demonstrationen und brutalen Polizeieinsätzen veröffentlicht „Das Volk“ auf seiner Titelseite eine Erklärung an seine Leser, in dem diese zum Dialog aufgefordert werden: „Wir Journalisten versichern“, heißt es darin, „dass es uns sehr ernst ist, wieder zu dem zu werden, was wir ja unserer eigentlichen Bestimmung nach in unserem sozialistischen Staat sind: Mittler zwischen im besten Sinne Streitenden ebenso wie selbst Partner . . .“ In den folgenden Tagen und Wochen veröffentlicht die Zeitung zunehmend kritischere Leserstimmen.

28. OKTOBER:

Die Redaktion ergreift Partei für Erfurter Demonstranten. In einer offiziellen Mitteilung der SED war unter anderem von „demagogischen Losungen“ die Rede.

Bilder aus 30 Jahren TA-Redaktion und Druckzentrum

Am Standort Bindersleben entstand Europas zur damaligen Zeit modernstes Druckzentrum.
Am Standort Bindersleben entstand Europas zur damaligen Zeit modernstes Druckzentrum.
Jede Nacht rattern im Druckzentrum Erfurt-Bindersleben seitdem die Rotationsmaschinen.
Jede Nacht rattern im Druckzentrum Erfurt-Bindersleben seitdem die Rotationsmaschinen.
Auch der MDR drehte immer wieder in den Räumen der TA. Hier ist MDR-Redakteur Sascha Mönch im Gespräch mit Sebastian Helbing.
Auch der MDR drehte immer wieder in den Räumen der TA. Hier ist MDR-Redakteur Sascha Mönch im Gespräch mit Sebastian Helbing. © TA | Sascha Fromm
Für den TA-Krimi
Für den TA-Krimi "Wilhelm ermittelt" suchte die Zeitung bei einem Casting im Terminal des Erfurter Flughafens Darsteller. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Weit über 200.000 Tageszeitungen verlassen täglich in den frühen Morgenstunden...
Weit über 200.000 Tageszeitungen verlassen täglich in den frühen Morgenstunden...
Gemeinsam mit der IHK Erfurt vergab die TA 2016 den Wirtschaftspreis
Gemeinsam mit der IHK Erfurt vergab die TA 2016 den Wirtschaftspreis "Unternehmen mit Verantwortung". © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Immer wieder werden die Redaktionsräume auch für Leser geöffnet - so wie hier bei der
Immer wieder werden die Redaktionsräume auch für Leser geöffnet - so wie hier bei der "Langen Nacht der Wissenschaften". © TA | Sascha Fromm
Vor 30 Jahren, am 16. Januar 1990, erschien die erste Ausgabe der Thüringer Allgemeine. Vier Jahre später weihte Helmut Kohl das neue Druckzentrum ein.
Vor 30 Jahren, am 16. Januar 1990, erschien die erste Ausgabe der Thüringer Allgemeine. Vier Jahre später weihte Helmut Kohl das neue Druckzentrum ein.
Hier werden die Zeitungen für den Versand vorbereitet.
Hier werden die Zeitungen für den Versand vorbereitet. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die aus der SED-Bezirkszeitung
Die aus der SED-Bezirkszeitung "Das Volk" hervorgegangene Thüringer Allgemeine war die erste unabhängige Tageszeitung Ostdeutschlands.
Die Mediengruppe Thüringen, zu der auch die TA gehört, veranstaltet auch die Messe
Die Mediengruppe Thüringen, zu der auch die TA gehört, veranstaltet auch die Messe "Besser leben", hier mit Stargast Harald Glööckler.
In einem modernen Newsroom entstehen neben der täglichen Ausgabe das Internetangebot, werden die Social-Media-Kanäle von Facebook über Twitter bis hin zu Instagram betreut und Podcasts erstellt.
In einem modernen Newsroom entstehen neben der täglichen Ausgabe das Internetangebot, werden die Social-Media-Kanäle von Facebook über Twitter bis hin zu Instagram betreut und Podcasts erstellt.
Beim Leserkonzert im Erfurter Kaisersaal spielte 2019 die Thüringen-Philharmonie Gotha-Eisenach.
Beim Leserkonzert im Erfurter Kaisersaal spielte 2019 die Thüringen-Philharmonie Gotha-Eisenach. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
In der Reihe
In der Reihe "Domplatz 1" konnten Leser sich als Interviewer betätigen, hier 2016 mit City-Sänger Toni Krahl. © TA | Alexander Volkmann
Das Interesse an der Erstellung der Tageszeitung und der Onlineangebote ist bei Jung und Alt groß.
Das Interesse an der Erstellung der Tageszeitung und der Onlineangebote ist bei Jung und Alt groß. © TA | Sascha Fromm
Hier gibt die Redaktion einen Einblick in ihre Arbeitsweise, diskutiert mit Lesern und nimmt Kritik auf.
Hier gibt die Redaktion einen Einblick in ihre Arbeitsweise, diskutiert mit Lesern und nimmt Kritik auf.
Die Zeitungslektüre gehört für viele Thüringer zu einem gelungenen Tag.
Die Zeitungslektüre gehört für viele Thüringer zu einem gelungenen Tag.
Hoher Besuch: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war 2017 zu Gast im Druckzentrum in Erfurt Bindersleben.
Hoher Besuch: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war 2017 zu Gast im Druckzentrum in Erfurt Bindersleben. © TA | Sascha Fromm
...die riesige Halle und werden von hunderten Zustellern in ganz Thüringen verteilt.
...die riesige Halle und werden von hunderten Zustellern in ganz Thüringen verteilt.
In Kooperation mit Salve TV produziert die TA seit mehreren Jahren regelmäßige Sendungen zu den Themen Politik, Kultur und Sport.
In Kooperation mit Salve TV produziert die TA seit mehreren Jahren regelmäßige Sendungen zu den Themen Politik, Kultur und Sport. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Doch die Thüringer Allgemeine ist heute viel mehr als eine Zeitung.
Doch die Thüringer Allgemeine ist heute viel mehr als eine Zeitung.
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3. NOVEMBER:

Unter der Überschrift „Wir wollen Katalysator sein“ erscheint erstmals in der sich wandelnden DDR ein Gespräch mit einem Vertreter des Neuen Forums. Der Gefragte - Matthias Büchner, Mitglied des
Sprecherrates - bezeichnet den Macht- und Führungsanspruch der SED als „objektive Realität“, fügt aber hinzu: „Die Akzeptanz ist eine andere Sache.“

10./11. NOVEMBER:

Redakteure begleiten die Thüringer auf ihren ersten Fahrten über die geöffnete Grenze.

13. NOVEMBER:

In Wort und Bild enthüllen VOLK-Redakteure Einzelheiten über die Jagdhütte Kammerbach. Das „kleine Haus im Wald“ entpuppt sich als luxuriöse Absteige der SED-Bezirksoberen. Wegen Unregelmäßigkeiten beim Bau und Betrieb des Gebäudes wird es später zum Prozess gegen den zu dieser Zeit bereits abgesetzten Chef der SED-Bezirksleitung Gerhard Müller kommen. Am gleichen Tag veröffentlicht die Zeitung als erste in Ostdeutschland das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Wenige Tage später, am 17. November 1989, folgt die DDR-Programmillustrierte „FF dabei“ dem Beispiel.

4./5. DEZEMBER:

Ausführlich berichten Redakteure über aufgebrachte Bürger in der Stasibezirkszentrale in der Andreasstraße. Im Heizungskeller finden und fotografieren sie Reste von Schriftstücken und Beweismaterial, das hier in den letzten
Tagen vernichtet wurde. Die Reporter werden Zeuge, dass es trotz Erregung an diesem Tag in den Mauern der Andreasstraße keine Gewalt, keine Ausschreitungen gab. Nachdrücklich widerspricht die Zeitung am nächsten Tag einem Generalleutnant der Polizei, der von einer Besetzung sprach und die Bürger in die Ecke der Gesetzesverletzer stellte.

6. DEZEMBER:

Deutlich distanziert sich die Zeitung von der SED: Statt als „Organ der Bezirksleitung der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands“ erscheint sie erstmals als „Sozialistische Tageszeitung für den Bezirk Erfurt“. Die betroffene SED reagiert mit Drohungen und Erpressung.

18. DEZEMBER:

Erstmals veröffentlicht „Das Volk“ Leserstimmen zur Wiedervereinigung.

21. DEZEMBER:

„Volk“-Reporter enthüllen, dass Honecker Panzer aus Erfurt, die zum Verschrotten ausgesondert worden waren, für Äthiopiens Staatschef herrichten ließ. 152 Tanks waren im Mai, Juni und September des Jahres nach Äthiopien verschifft worden. Die Veröffentlichung löst eine Welle empörter Leserbriefe aus. Der Beitrag eröffnet eine Serie von Enthüllungsstorys über politische Manipulation und Betrug in der DDR.

26./27. DEZEMBER:

Mit einem Extrablatt begrüßt die Zeitung Gäste aus dem Westen, die nach Aufhebung der Visabeschränkungen ungehindert nach Thüringen einreisen können. In der gleichen Ausgabe: Zum ersten Mal wirbt eine Zeitung in Ostdeutschland um Anzeigenkunden aus dem Westen.

28. DEZEMBER:

„Das Volk“ entdeckt Fotos eines Wartburg-Coupés von 1972 und enthüllt: Da es im damaligen Politbüro immer noch eine starke Linie gab, die in Berlin vom allgemein bekannten Einheitsauto überzeugt war, verstaubten die Coupéentwürfe.

2. JANUAR 1990:

Die Zeitung durchbricht die Abo-Beschränkungen, die es vielen bisher unmöglich machte, überhaupt eine Tageszeitung in der DDR zu beziehen. Jeder, der möchte, kann jetzt DAS VOLK abonnieren.

6. JANUAR:

Die Titelseite macht mit einer Karte und der Frage „Was ist das?“ auf. Im Inneren nimmt die Zeitung als erste im Land fast vier Jahrzehnte nach der Zerschlagung der Länder in Ostdeutschland (1952) die Diskussion für und gegen eine Neubildung des Landes Thüringen auf. Fazit einer Umfrage unter Menschen in allen drei Thüringer Bezirken: Die Zustimmung für ein Land Thüringen ist dominierend.

11. JANUAR:

Erstmals erscheint DAS VOLK ohne die im Herbst geänderte Unterzeile „Sozialistische Tageszeitung für den Bezirk Erfurt“. Außerdem fehlt das Impressum, das die Zeitung bisher noch immer als Eigentum der SED-PDS auswies. Nach internen Auseinandersetzungen mit der SED-Leitung und der alten Chefredaktion kehrt der Untertitel am nächsten Tag an seinen Platz zurück, das Wiedererscheinen des Impressums verhindern
Drucker, die sich mit der Redaktion solidarisieren.

13. JANUAR:

Nun gibt es kein Zurück mehr: Die Zeitung kündigt für den darauf folgenden Montag ihren Gang in die Unabhängigkeit an. Beschlossen wird er am gleichen Tag bei einer Vollversammlung der Redakteure und Verlagsmitarbeiter. Es wird eine emotionsgeladene Debatte, nach der schließlich die meisten Mitglieder der bisherigen Chefredktion sowie ein Teil der Redakteure auf eigenen Wunsch aus der Redaktion ausscheiden.

15. JANUAR:

Zum letzten Mal erscheint die Zeitung mit dem Titel DAS VOLK, der jedoch bereits mit dem neuen Namen
„Thüringer Allgemeine“ bedeckt ist. Unter der Überschrift „Urabstimmung für eine unabhängige Zeitung“ wird über die Vollversammlung der Redakteure und den Beschluss, als neue, überparteiliche Zeitung das Vertrauen der Leser gewinnen zu wollen, informiert. Der Beschluss sei auch gegen die von Hinhaltetaktik bis Drohung reichen
den Verhinderrungsversuche der SED-PDS-Leitung erfolgt. Rückendeckung erhielt die Redaktion aus Druckerei und Verlag, die erneut ihre Solidarität mit den Journalistenkollegen erklärten. Gleichzeitig sagt sich die nun
mehr von einem gewählten Redaktionsrat geleitete Redaktion von den Subventionen der Partei los, die ihr Erscheinen bisher überhaupt möglich machten.

17. JANUAR:

Die THÜRINGER ALLGEMEINE veröffentlicht ein Formular, mit dem die Thüringer
Abonnenten werden können. Noch beträgt der Abo-Preis 3 Mark der DDR. Für ihren neuen kritischen Journalismus wirbt die Zeitung mit neuen Enthüllungen über den Bananenskandal vom Herbst: Im Oktober hat
te „Das Volk“ herausgefunden, dass in einem Bananenkeller der OGS Erfurt Früchte im Wert
von 28 500 Mark zurückgehalten wurden und vergammelten.

2./9. FEBRUAR:

Nach eingehenden Recherchen und Gesprächen mit den Betroffenen erscheinen Anfang Februar erste Beiträge, die nach dem bis dahin tabuisierten sowjetisch-stalinistischen Nachkriegslager auf
dem Gelände des KZ Buchenwald fragen. Die Veröffentlichungen lösen ein landesweites Medienecho und Interesse aus. In vielen Leserzuschriften schildern Betroffene oder deren Angehörige Erfahrungen und Erinnerungen an Leid und Sterben im Lager. Beim Gang durch den Ettersburger Forst nördlich des Lagers waren TA-Reporter auf offenliegende Gebeine verscharrter Lagerinsassen gestoßen.

22. FEBRUAR:

Als erste ostdeutsche Zeitung übernimmt die „Thüringer Allgemeine“ erstmals Meldungen der westdeutschen dpa (Deutsche Presseagentur). In einem Grußwort hofft deren Chefredakteur auf gute und fruchtbare Zusammenarbeit.

20. APRIL:

Die mit der WAZ Essen (heute Funke-Mediengruppe) unterzeichnete Kooperationsvereinbarung sichert der „Thüringer Allgemeine“ auch die finanzielle Unabhängigkeit. Tag für Tag begleitet die Zeitung nunmehr die Wandlungen im Land. Ob Wahlen, Währungsunion oder schließlich Wohl und Wehe der deutsche Einheit - immer sind ihre Reporter und Fotografen vor Ort. Die Leser danken es ihr mit kritischer Aufmerksamkeit und Treue.