Martin Debes über Wahlen im Landtag.

Alle Wahlen in der deutschen Demokratie sind gleich, frei - und geheim. Das stimmt für die Bürger, die Abgeordnete wählen. Aber es stimmt eben auch für die Abgeordneten selbst. Ob sie nun, sagen wir mal, im Landtag einen Ministerpräsidenten wählen oder den eigenen Vizepräsidenten: Die Abstimmung ist nicht offen. Derselbe Grundsatz, das sei hilfsweise angemerkt, gilt auch für Präsidentinnen und Vizepräsidentinnen.

Aber so einfach, wie es klingt, ist es dann doch nicht. Im Unterschied zum Bürger wählt der Abgeordnete nicht anonym. Ein Parlament ist vergleichsweise übersichtlich, in einem kleinen Land wie Thüringen sowieso. 90 Abgeordnete sind schnell nachgezählt.

Ein Landtagsmitglied ist, so sagt es die Verfassung, bei allen Entscheidungen nur seinem Gewissen verpflichtet. Aber es gehört eben in aller Regel einer Partei an, und damit auch einer Fraktion, die wiederum Beschlüssen, Wahlversprechen und sonstigen Dogmen verpflichtet ist. Daraus ergeben sich zuweilen Interessenkonflikte.

Drei Beispiele. Am 5. Februar wählten CDU-, FDP- und AfD-Abgeordnete den FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Regierungschef, der daraufhin zurücktrat, weil er ohne AfD-Stimmen nicht ins Amt gekommen wäre. Daraus entstand ein nationaler Skandal, der zur Regierungskrise führte.

Daraufhin schienen einige CDU-Abgeordnete dazu bereit, für den Linken Bodo Ramelow zu stimmen, um dem Land wieder ein ordentliche Regierung zu geben. Das scheiterte aber am Widerstand von Basis und Bundesführung. Als Kompromiss kam es am 4. März zur kollektiven Enthaltung, was eine rechtssichere relative rot-rot-grüne Mehrheit ermöglichte.

Kaum war Ramelow im Amt, wählte der Landtag am 5. März mit einfacher Mehrheit den AfD-Abgeordneten Michael Kaufmann zum Landtagsvizepräsidenten. Zuvor hatte seine Fraktion, der dieser Posten zusteht, drei vergebliche Anläufe unternommen.

Die Stimmen für Kaufmann kamen nach allem, was man bislang weiß, von AfD, CDU und FDP - und, das verriet der Ministerpräsident proaktiv: von Bodo Ramelow.

Bei allen Parallelen sind die drei Vorgänge unterschiedlich zu bewerten. Kemmerich trat zurück, weil er Ministerpräsident von Gnaden einer Partei war, die in Thüringen von dem Rechtsradikalen Björn Höcke geführt wird. Wäre er im Amt geblieben, hätte er Geschichtsvergessenheit demonstriert, die Prinzipien des Liberalismus verleugnet und einen permanenten politischen Ausnahmezustand produziert.

Die CDU wiederum fand nach einigem selbst verursachten Schmerz einen Mittelweg, dem Land etwas Stabilität zu verschaffen, ihre Beschlüsse zu achten und sich die Chance für einen Neuaufbau zu geben. Dies war angesichts des Drucks, unter dem die Landespartei steht, keine Kleinigkeit.

Und schließlich: Indem der Landtag Kaufmann zum Vizepräsidenten wählte, verschaffte er Höckes Fraktion einen Erfolg, der Risiken birgt. Auch wenn in Thüringen andere Regeln gelten als in Brandenburg, wo ein AfD-Vizepräsident eine Debatte zum Rechtsextremismus verhindern wollte, so hat doch die Partei in Thüringen bei der Kemmerich-Wahl gezeigt, zu welchen Manövern sie fähig ist.

Die eigentliche Überraschung: Ministerpräsident verrät sein Wahlgeheimnis

Aber: Gleichzeitig verhalf der Landtag mit Ramelows Stimme einer Fraktion mit frei gewählten Abgeordneten zu ihrem Recht und brach nebenher die Blockade in den Ausschüssen, die Richter und Staatsanwälte bestätigen.

Die eigentliche Überraschung jedoch war, dass der Ministerpräsident als Abgeordneter sein Wahlgeheimnis, nun ja, verriet. Das mutmaßliche Kalkül: Ein Signal des Pragmatismus an die CDU, die ja offenbar fast geschlossen für Kaufmann stimmte. Und ein Zeichen an die Bevölkerung, dass für ihn die Handlungsfähigkeit des Landes über Parteiinteressen steht.

Am Ende stellte aber Ramelow, gewollt oder nicht, eine alte Frage neu. Warum müssen Abgeordnete geheim wählen - und stimmen nicht, so wie bei Gesetzen, offen ab? Wäre dann nicht vieles leichter, von Regierungsbildungen bis zu Rechnungshofbesetzungen?

Nebenbei würden auch die vielen gegenseitigen Verdächtigungen aufhören. So könnte zum Beispiel ein vormaliger AfD-Abgeordneter nicht mehr einfach so erzählen, er und ein namentlich nicht genannter Fraktionskollege hätten schon im Jahr 2014 Ramelow gewählt.

Gegen den damit erzeugten Generalverdacht können sich die Betroffenen schlecht wehren.

Die Wahl ist ja geheim.

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