Martin Debes interpretiert die aktuellen Wahl-Ergebnisse.

Im August 1990 trafen die frei gewählten Repräsentanten der DDR eine Entscheidung, die realpolitisch begründbar war, aber die lange nachwirken sollte, gerade in ihrer symbolischen Wirkung. Die letzte Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik beschloss – mehr oder minder sanft vom Bundeskanzleramt im Bonn angeleitet – gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland den Beitritt zum Geltungsbereich eben jener, eigentlich ja vorläufigen Verfassung.

Nun hat sich dieses Nachkriegsprovisorium, das vor ein paar Tagen 70 wurde, als eine ziemlich tolle Angelegenheit herausgestellt, was auch von tiefroten und hellblauen Demokratiebeteiligten festgestellt wird. Aber ihr letzter Artikel mit der Nummer 146 las sich 1990 noch wie folgt: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Es war der Artikel, der 1949 für den Fall geschrieben worden war, der nun eintrat: Den Fall der Wiedervereinigung. Der Souverän der beiden deutschen Staaten, die zusammenwuchsen, sollte sich eine gemeinsame Verfassung geben, per Volksabstimmung. Artikel 23 besaß hingegen eher eine technische Funktion, als Beitrittsoption für Gebiete wie das Saarland.

Aber dieser Prozess besaß politische, auch geopolitische Risiken, und er erschien unbequem – und ja, er würde dauern. Außerdem wollte der Kanzler der Einheit in spe im Dezember eine Bundestagswahl gewinnen.

Und so wurde in rhetorischer Milde gefragt: Verlangten nicht die Menschen auf den ostdeutschen Straßen nach einer schnellen Wiedervereinigung? Wollten sie nicht neben der Freiheit, die sie sich selbst in der DDR ja schon erstritten hatten, auch den zugehörigen Wohlstand? Forderten sie nicht nur die D-Mark, die ja schon am 1. Juli als Währung galt, sondern die volle Gleichberechtigung?

Na also.

Sowieso würde ja alles sehr schnell gehen. In fünf Jahren, maximal zehn, wäre das bisschen DDR an den BRD-Standard angeglichen. Die Brüder und Schwestern im Osten, sie wandelten dann durch blühende Landschaften, und die Verwandtschaft im Westen müsste endlich keine Geldgeschenke mehr schicken.

Und so breitete sich die BRD am 3. Oktober 1990 auf das Gebiet der untergegangenen DDR aus, mit all ihren Gesetzen, Richtlinien und Regelwerken, die sie sich in 40 Jahren zugelegt hatte. Die zugehörigen Beamten, Anwälte, Richter, Wissenschaftler und Politiker entsendete sie gleich mit. Die Hauptstadt mochte umziehen: Doch die Berliner Republik blieb in ihrem Kern ein Bonner Konstrukt.

Die Folgen sind ambivalent. Selbst wenn alles deutlich länger dauerte als versprochen, so sind doch die Erfolge unbestreitbar. Ostdeutschland liegt in vielen Bereichen auf 80 Prozent des Westniveaus, oder gar höher.

Doch hier steckt die Region fest. Gleichzeitig wirken die Traumata der Transformation nach, ja, sie scheinen sich gerade zu verfestigen. Der Osten hat sich mit Deindustrialisierung und Abwanderung in großen Teilen zu einem eigenständigen politischen Biotop entwickelt, mit einer ganz eigenen Flora und Fauna. Zuerst wuchs zum Erstaunen des westdeutschen Publikums aus der früheren kommunistischen Staatspartei SED die Quasi-Ost-Partei PDS heran, die aktuell, wie eine späte Rache der DDR, als Linke in Bremen in die erste westdeutsche Landesregierung drängt.

Nun hat sich neben der Linken die AfD im Osten etabliert und macht sich daran, sie mancherorts gar abzulösen. Während die Partei im Westen schwächelt, kann sie hier ihre Bundestagswahlergebnisse bestätigen und sich in den Kommunen festsetzen. Die Resultate der Landtagswahlen ab September lassen sich ausmalen.

Die Lehre des Wahlsonntags lautet: Nur weil etwas recht lange recht gut funktionierte, muss es deshalb nicht weiter funktionieren. Diese Welt verändert sich tiefgreifend, und mit ihr verändern sich Europa, Deutschland und Thüringen. Dazu begehrt die junge, digitale Generation auf und beginnen endlich immer mehr Menschen zu begreifen, dass der Klimawandel keine wissenschaftliche Debatte ist, sondern eine existenzielle Frage.

Die Transformation, die der Osten seit 30 Jahren durchmacht, hat nun den Westen ergriffen. Die Ironie daran ist, dass doch insbesondere die Wähler der AfD die „alte Bundesrepublik“ zurückhaben wollen. Aber es gibt sie nicht mehr. Sie ist, wie sie es auf Youtube sagen, zerstört.