Oßmannstedt. Julia Steinhöfel aus Oßmannstedt berichtet über den unfreiwilligen Abbruch ihres Freiwilligendienstes in Brüssel.

Die Corona-Krise machte der 18-jährigen Julia Steinhöfel nun einen dicken Strich durch die Rechnung. Eigentlich wollte die junge Frau aus Oßmannstedt nach ihrem Abitur in Schulpforte über die Aktion Sühnezeichen ein freiwilliges soziales Jahr in Brüssel absolvieren, um an sozialen Brennpunkten Gutes zu tun. Nun kam alles anders. Die Geschichte von Julia steht exemplarisch für Hunderte von Jugendlichen, die derzeit im Ausland ein freiwilliges kulturelles oder soziales Jahr absolvieren wollten und nun abbrechen mussten. Ein abruptes Ende eines faszinierenden und für Jugendliche sehr wichtigen Abschnitts, der zwangsläufig zu Veränderungen in der Lebensplanung führt. Hier ihr Bericht. Alle aktuellen Entwicklungen im kostenlosen Corona-Liveblog.

Es ist der 16. März 2020. Ich stehe nachts in meinem kleinen WG-Zimmer in Brüssel und suche meine letzten Sachen zusammen. Von einem Tag auf den anderen muss ich plötzlich wieder nach Deutschland zurück. Ich nehme Fotos von der Wand, rolle Plakate ein und überreiche meine Pflanzen meinen zwei französischen Mitbewohnerinnen. Eigentlich hätte dieser Moment erst in sechs Monaten sein sollen, aber die Ausbreitung des Corona-Virus hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Im September hatte ich meinen Freiwilligendienst in dem Projekt „ATD Quart Monde“ in Brüssel begonnen. Für 12 Monate wollte ich einen Friedensdienst leisten, also ein Auslandsjahr mit „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“, meiner Entsendeorganisation. Sie schickt jedes Jahr etwa 180 Freiwillige nach Europa, in die USA und nach Israel. Die Freiwilligen begleiten Holocaustüberlebende und ihre Nachkommen, unterstützen sozial Benachteiligte, Geflüchtete und Menschen mit Behinderungen oder engagieren sich in Organisationen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus.

Mein Projekt ATD Quart Monde ist eine Menschenrechtsorganisation, die international gegen Armut kämpft. Als Freiwillige hatte ich ganz unterschiedliche Aufgaben; von Übersetzungen für die Website bis hin zu Recherchearbeiten für die politische Arbeit meines Projekts im europäischen Parlament. Jeden Mittwoch habe ich mit Kindern in Molenbeek auf der Straße Lesen und Schreiben geübt und viel Fußball gespielt. Molenbeek ist ein Stadtviertel, in dem viele Familien sozial ausgegrenzt leben und mit sehr wenig Geld über die Runden kommen müssen. Jetzt gerade denke ich viel an „meine“ Kinder dort, die ich alle ins Herz geschlossen habe, und von denen ich mich leider nicht verabschieden konnte. Sie sind viel stärker von der aktuellen Situation betroffen als ich, da sie in kleinen Wohnungen mit vielen Geschwistern wohnen und sich nicht zurückziehen können. Da sehe ich es dann wieder als Privileg, jetzt in unserem Garten in Oßmannstedt sitzen zu können.

Die Arbeit mit den Menschen dort in Brüssel, den Kindern in ihren jeweiligen Verhältnissen eine Stütze zu sein und mit ihnen Freude und Leid zu teilen – das wäre mir jetzt ein Herzenswunsch! Denn eigentlich hatte ich vor, noch bis Ende August in Brüssel zu bleiben. Mitte März wurden jedoch alle internationalen Freiwilligen aus ihren Projekten zurückgerufen, und so sitze ich jetzt wie Tausende andere junge Leute ohne einen Plan für die kommenden sechs Monate zu Hause. Auf einmal ist mehr als genug Zeit zum Aufräumen und Nachdenken, und eigentlich wäre ich gerne wieder in Belgien. Ich vermisse auch die anderen Freiwilligen, mit denen ich schon Pläne für den Sommer geschmiedet hatte.

Ich hoffe, vielleicht in ein paar Monaten noch mal zurück nach Brüssel fahren zu können, bis dahin muss ich mir überlegen, wie ich diesen plötzlichen Freiraum fülle. Mein Kopf hängt immer noch ein bisschen in Belgien, ich telefoniere mit meinen Mitbewohnerinnen, schaue belgische Serien und übe Niederländisch. Es wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis ich nicht mehr melancholisch, sondern nur noch glücklich an diese Zeit zurückdenke.