Saalfeld/Erfurt. Carillon-Spieler machen Live-Musik auf Glocken. In Thüringen sind sie unter anderem in Saalfeld und Erfurt zu hören.

Bevor es losgeht, schließt Christian Michel erst einmal die Luke, die nach oben zur Glockenstube führt. „Sonst fliegen uns die Ohren weg.“

Dann rutscht er unten im Turm auf die Bank des „Stockenspieltisches“, auf dem Stöcke wie eine Klaviatur aufgereiht sind, ballt die Finger zu Fäusten und beginnt. In atemberaubenden Tempo saust Faust auf Faust auf das Carillon des Henriettenstifts in Hannover. Oben vom Turm herab erschallt eine bewegte Melodie in den umliegenden Park: ein Präludium, per Hand gespielt von 49 Glocken. „Man spürt das Vibrieren der Klänge am ganzen Körper“, schwärmt Michel. „Man schwingt automatisch mit.“

Vor vier Jahren hat Michel (39), im Hauptberuf Bibliothekar, das Carillon für sich entdeckt – eine besondere Art des Glockenspiels. Dabei sind die Glockenklöppel über Drähte, Wellen und Bügel mit großen Tasten eine Etage tiefer verbunden – den „Stöcken“. Carillons werden ausschließlich mit der Hand gespielt und laufen nicht automatisch.

Und nicht jedes Glockenspiel darf sich Carillon nennen. Mindestens 23 Bronzeglocken muss es haben, die aufeinander abgestimmt sind. Und einen mechanischen Spieltisch. „Der Standard sind heute 49 Glocken über vier Oktaven“, erläutert Michel. Das größte europäische Carillon im „Roten Turm“ in Halle an der Saale hat sogar 76 Glocken und kommt auf ein Gesamtgewicht von 55 Tonnen. Damit sind Carillons sicherlich die schwersten Instrumente der Welt.

Flandern gilt als Heimat des Carillons

In ganz Deutschland gibt es derzeit 48 Carillons in Kirchen, Rathäusern, Türmen oder Parks, vor allem im Südwesten und in Thüringen. Und rund 60 ehrenamtliche Carilloneure, die sie spielen können. „Wir sind ein illustrer Kreis von Enthusiasten“, sagt Ulrich Seidel aus Erfurt, Vorsitzender der Deutschen Glockenspielvereinigung und Carilloneur im Erfurter Bartholomäusturm. Die „Klangfülle dieses Instruments“ begeistert ihn seit vielen Jahren. „Man kann alles darauf spielen, was komponiert wurde und was noch komponiert werden wird.“ Sogar ein Stück der Rockband AC/DC habe er schon gehört.

Christian Michel in Hannover ist eher klassisch orientiert. Er spielt Stücke von Bach oder Rachmaninow, die für Carillon arrangiert wurden, Kirchenlieder oder gezielte Kompositionen für das Carillon. „Man muss sich erst einmal daran gewöhnen, dass man nicht mit den Fingern spielt, sondern mit den Fäusten.“ Michel spielt schon seit Schulzeiten Orgel und kam über Freunde zum Carillon. „Das hat mich so gepackt, dass ich beschlossen habe, das muss ich gleich in die Tat umsetzen.“

Flandern im benachbarten Belgien ist die Heimat des Carillons. Dort stellten Glockengießer bereits Anfang des 16. Jahrhunderts aufeinander abgestimmte Glocken her und bauten sie in die Stadttürme ein. Allein in den Niederlanden gibt es 180 Carillons, dazu viele andere Glockenspiele. 672 Carillons gibt es weltweit, davon 474 in Europa.

Eines davon beherbergt der Glockenturm auf dem Gelände des Bergfried-Parks in Saalfeld. 1924 wurden dessen Glocken in Apolda gegossen, 1927 wurde es eingebaut und ist eines der wenigen, die aus dieser Zeit noch erhalten sind. Ernst Hüther, Inhaber der Schokoladenfabrik Mauxion und Bauherr des Bergfried-Anwesens, gab das Carillon in Auftrag.

Der Verbandsvorsitzende Ulrich Seidel wünscht sich für die Zukunft vor allem mehr Carillon-Nachwuchs. Und natürlich auch mehr Ins­trumente. „Wenn Sie ein ordentliches Carillon haben wollen, müssen Sie mit mehreren Hunderttausend Euro rechnen“, sagt er. „Ein Carillon ist wirklich ein Luxus, aber wenn man eines hat, ist das sehr schön.“ Seidel hofft auf zahlungskräftige Stifter. Und auf den Tourismus: „Für einen Ort ist so ein Carillon auf jeden Fall ein Alleinstellungsmerkmal.“

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