Berlin. Millionen Bäume sind zuletzt vernichtet worden – durch Brände, Trockenheit, Schädlinge. Experten fordern einen Masterplan

Als Förster Ulrich Dohle von seinem Nachteinsatz beim Waldbrand bei Lübtheen zurückkommt, zittert seine Stimme. Das Feuer, das erst am Montag endgültig gelöscht werden konnte, war das größte in der Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns. „Da bekommt man es echt mit der Angst zu tun.“ Seit vergangenem Jahr erlebten sie hier Brände, die sie vorher nicht kannten. „Das nächste große Waldsterben hat begonnen“, sagt der Vorsitzende im Bund deutscher Forstleute (BDF). Eine Einschätzung, die nicht alle Fachleute teilen.

Laut Bundeslandwirtschaftsministerium sind 2018 mehr als 32 Millionen Kubikmeter totes Holz entstanden. Hinzu kommen 750 Millionen frisch gepflanzte Bäume, die vertrocknet sind, schätzt der Deutsche Forstwirtschaftsrat, der zwei Millionen Waldbesitzer vertritt. Den finanziellen Schaden kalkuliert er auf rund zwei Milliarden Euro. Der BDF geht von „drei bis fünf Milliarden“ aus. Für 2019 wird Ähnliches erwartet.

„Der Unterschied zum Sterben vor 30 Jahren ist, dass dieses verhältnismäßig schnell beendet werden konnte“, sagt Dohle. Damals hatten ungefilterte Emissionen aus Kraftwerken zu saurem Regen geführt. „Die Kohlemeiler wurden daraufhin mit Schwefelabscheidung und Autos mit Katalysatoren ausgerüstet, der Wald konnte sich langsam erholen.“ Heute, beim Klimawandel, sei das nicht so einfach. Trockenheit, Schädlinge und Stürme seien der neue tödliche Cocktail. Wie bedrohlich die Lage sei, zeige die Rotbuche. „Die hatte bisher die wenigsten Probleme. Auf ihr lagen die größten Hoffnungen“, sagt Dohle. Jetzt gehe es selbst ihr in vielen Regionen schlecht.

90 Prozent der Schäden trafen die Fichte

Andreas Bolte, Direktor am Thünen-Institut für Waldökosysteme in Eberswalde, sieht die Situation weniger dramatisch. „Es gibt zwar aktuell zahlreiche Probleme und viele Bäume sterben“, erklärt er. Kahle Steppen müsste man aber nicht befürchten.

Der Kiefer macht Bolte zufolge der Nonnen-Nachtfalter zu schaffen, der Eiche eine ganze Reihe von Schädlingen, der Buche die mangelnde Feuchtigkeit. Besonders um die Fichte, den häufigsten Baum hierzulande, stehe es schlecht. Die Stürme im Herbst 2017 hatten dem Borkenkäfer viel frisches Holz geliefert, in dem er massenhaft brüten konnte. Die hohen Temperaturen im darauffolgenden April ließen die Käfer früher als sonst ausschwärmen. Die Fichten konnten sich dagegen nicht wehren. Ihnen fehlte das Wasser und damit das Harz. Ohne Harz kein Schutz. „Trotzdem erleben wir kein Waldsterben“, sagt Bolte.

Bolte selbst ist groß geworden, als das Problem in den 1980ern seinen Höhepunkt erreichte. Waldsterben, das bedeute für ihn, dass das Ökosystem als Ganzes keine Zukunft mehr habe. „Momentan geht es aber mehr um einzelne Bäume und bestimmte Baumarten.“ Tatsächlich mit Sorge betrachte er die geringe Bodenfeuchtigkeit. „Wenn der Wasseranteil im Boden unter 20 Prozent fällt, kollabieren die Wasserleitbahnen. Das ist oft der Anfang vom Ende.“

Nach einer Hochrechnung von ihm und seinen Kollegen wird es in Zukunft mehr Tage geben, an denen der Wert unter diese kritische Grenze fällt – mancherorts für einige Arten bis 2050 bis zu 150 Tage pro Jahr. „Aber auch das betrifft eher einzelne, oft schwächere Bäume in der Konkurrenz mit den Großen.“ Für tote Flächen sorgten eher Schädlinge.

„Höchstens ein Fichtensterben“, nennt es Peter-Michael Steinsiek, Forthistoriker der Universität Göttingen. Tatsächlich trafen laut Landwirtschaftsministerium 2018 etwa 90 Prozent der Schäden die Fichte, rund 50 Millionen Exemplare starben. „Aber das ist vor allem ein selbst gemachtes Problem“, sagt Steinsiek. Der Klimawandel verstärke das nur.

Um das zu verstehen, lohnt ein Blick in die Geschichte der heimischen Wälder. Dabei zeigt sich: Die Gewöhnliche Fichte kommt ursprünglich in höheren Lagen vor. Im Flachland ist es ihr eigentlich zu trocken, bei Dürre ist sie besonders anfällig für Schädlinge. Trotzdem wurde sie auch dort seit der frühen Neuzeit großflächig angepflanzt. Der Hunger nach schnell wachsendem Holz war groß. Die Fichte schien dafür ideal: Sie wächst schnell und in dichten Reihen und kann leicht verarbeitet werden. Sie wurde zum „Brotbaum“.

Heute machen Nadelwälder in Deutschland rund 56 Prozent der Fläche aus, bis zum frühen Mittelalter waren es etwa 30 Prozent, um die letzte Jahrhundertwende etwa 70. Laut Steinsiek war es nur eine Frage der Zeit, bis sich das rächt – „erneut“, wie er sagt. Denn in der Vergangenheit habe es das bereits mehrfach getan. Die größte Käferplage ereilte das Land in den Nachkriegsjahren 1946 und 1947. „Obwohl man schon in den 1920er-Jahren erkannt hatte, dass man von den reinen Fichtenwäldern wegmuss, haben die Nazis sie wieder verpflichtend eingeführt, als Symbolik für Reinbestand und um genügend Brennmaterial zu haben“, erklärt Steinsiek. Nach dem Krieg blieb man dabei, man brauchte weiter schnelles Holz.

„Die Fichte ist an den ungeeigneten Stellen also schon lange ein Auslaufmodell“, sagt Steinsiek. Der Wald hätte deutlich schneller umgebaut werden müssen. Denn auch aktuell zeigt sich – den naturnahen Wäldern geht es unverkennbar besser.

Ulrich Dohle vom BDF spricht in dem Zusammenhang von einer „Mammutaufgabe, an der wir seit Jahrzehnten arbeiten“, für die aber politischer Wille fehle. Erst 2017 war die Fichte zum Baum des Jahres gekürt worden. „Wenn der Wald weiter seine gesellschaftlichen Funktionen erfüllen soll, etwa zur Erholung und gegen den Klimawandel, muss die Politik spürbar aktiver werden. Ein echter Marshallplan muss her.“ Soll heißen: mehr Arten und mehr junge Setzlinge. Und mehr Forstangestellte – „statt wie bisher immer weniger“. Für diesen Plan brauche es aber absurderweise, so Dohle, auch wieder die Fichte. „Die Buche wächst nicht auf kahlen Flächen, sie braucht den schützenden Schirm der Nadelbäume.“

Thünen-Experte Bolte sieht in der aktuellen Lage sogar eine Chance, den Umbau „hin zu klimastabileren Mischwäldern“ schneller voranzubringen. Dabei macht er aber klar, dass ihm ein „Zurück zu den Naturwäldern Bauchschmerzen“ bereite. Auch allein auf die Buche zu setzen, gehe schief. Die sei zwar „super für den Wasserhaushalt und die Artenvielfalt“, aber auch sie werde bald an ihre klimatischen Grenzen kommen, vor allem im Tiefland.

Bolte rät, die Last auf viele Schultern zu verteilen. Das Denken in einzelnen Arten sei falsch. Die Kiefer etwa werde in spätestens 50 Jahren in Brandenburg keine Rolle mehr spielen. Forstleute, sagt Bolte, sollten sich künftig eher als Reisebegleiter verstehen. Arten werden kommen und gehen, da müsse man sich anpassen.

Für Forsthistoriker Peter-Michael Steinsiek sei unbestreitbar, dass sich der Wald spürbar verändert. „Sterben“ nennt er es nicht – das klinge zu umfänglich und unumkehrbar.