Berlin. Die meisten Shops im Internet sind nicht barrierefrei. Millionen beeinträchtigte Menschen sind außen vor. Eine Kehrtwende ist in Sicht.

Schnell etwas Neues zum Anziehen im Online-Shop bestellen, ein Elek­trogerät liefern lassen oder schlicht Vorratspackungen vom Drogeriemarkt nach Hause ordern: Für die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist das kein großer Aufwand. Zum Smartphone greifen oder den Laptop öffnen, Bestellprozess durchlaufen, Bezahlmethode auswählen – und Minuten später ist die Bestellung erledigt.

Anders sieht das hierzulande für die knapp acht Millionen Menschen aus, die mit einer Beeinträchtigung leben, die zum Beispiel beim Sehen, Hören, Greifen oder beim Verstehen von Texten eingeschränkt sind. Entweder von Geburt an, nach einem Unfall oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters. Jeder Zehnte der Verbraucherinnen und Verbraucher ist darauf angewiesen, dass das angesteuerte Online-Portal barrierefrei aufgebaut ist, sonst endet der beabsichtigte Kauf frühzeitig.

Online-Shops: Drei Viertel der Portale nicht barrierefrei

Doch für Millionen von Menschen in Deutschland sind unüberwindbare Hürden beim Online-Kauf offenbar an der Tagesordnung. Die Mehrheit der großen Einkaufsportale im Netz hat teils noch erheblichen Nachholbedarf bei der Barrierefreiheit – was ohnehin schon eingeschränkten Menschen im digitalen Alltag noch mehr an Selbstbestimmtheit nimmt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die Google zusammen mit der Aktion Mensch und der Stiftung Pfennigparade am Mittwoch in Berlin vorgestellt hat.

„Drei Viertel der Shopseiten sind nicht barrierefrei und schließen Menschen aus“, sagte Christina Marx, Leiterin Aufklärung und Kommunikation bei der Aktion Mensch. Für die Studie wurden die 78 meistbesuchten deutschsprachigen Online-Shops anhand zahlreicher Kriterien auf ihre Barrierefreiheit hin getestet. Fachlich beraten wurde das Team durch die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund).

Sieben Tester mit unterschiedlichen körperlichen, kognitiven oder Sehbehinderungen haben versucht, sich durch die knapp 80 Portale zu navigieren, von der Produktauswahl über die Adresseingabe bis kurz vor die Bezahlung. Ausschlaggebend waren die mobilen Shopseiten, etwa auf dem Smartphone oder Tablet, Apps wurden nicht berücksichtigt.

Onlineshopping auf dem Handy: Ohne Bedienhilfen für viele unmöglich.
Onlineshopping auf dem Handy: Ohne Bedienhilfen für viele unmöglich. © Getty Images/iStockphoto | SDI Productions

Bedienung nur mit Tastatur: überwiegend unmöglich

Das Ergebnis klingt ernüchternd: Allein 61 der 78 mobilen Shopseiten boten keine Möglichkeit, sich rein mithilfe der Tastatur bis zur Bestellbestätigung durchzutippen. Dabei sei das eine der wichtigsten Bedienhilfen etwa für Nutzer mit feinmotorischen Einschränkungen, sagte Susanne Baumer von Pfennigparade, einem Münchener Rehazentrum für Menschen mit Körperbehinderung.

Statt mit der Maus lässt sich im Normalfall die Tab-Taste verwenden, um auf Webseiten zwischen den Schaltflächen und Eingabefeldern zu wechseln. Wo das nicht geht, schildert Baumer, können beeinträchtigte Kunden teilweise die Kleidergröße oder Stückzahl nicht ändern. Oder der verpflichtende Banner zur Auswahl der Werbe-Cookies überdeckt beim Aufploppen die Tastatursteuerung. „Häufig scheitern die Menschen nach Eingabe aller Daten auch erst am Ende, weil sie mit der Tab-Taste nicht auf den Jetzt-kaufen-Knopf kommen“, so Baumer.

Zur Barrierefreiheit gehört laut den Testern auch, dass Produktbilder mit einem erklärenden Text hinterlegt sind – nur so können sich blinde oder sehgeschädigte Menschen mithilfe eines Screenreaders alle Informationen einer Webseite vorlesen lassen. Getestet wurden zudem die Möglichkeiten, Texte zu vergrößern und höhere Kontraste einzustellen, oder die Steuerung per Spracheingabe. Immerhin zwölf der Shops ermöglichten eine barrierefreie Navigation. „Wir wollen aber niemanden an den Pranger stellen“, sagte Marx. Vielmehr wurden konkrete Handlungsempfehlungen für Shopbetreiber abgeleitet.

Barrierefreie Shops: für jeden Zehnten „unerlässlich“

Barrierefreie Online-Shops seien für jeden Zehnten in Deutschland „unerlässlich“, betonte Marx, nämlich jene 7,8 Millionen Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung. „Die bleiben sonst vor der digitalen Shoptür einfach stehen.“ Gerade sie nutzten Online-Shops überdurchschnittlich oft.

Für weitere 30 Prozent sei die Hilfe „notwendig“, etwa für jene mit Sehschwäche oder motorischen Einschränkungen, darunter viele Ältere. „Gestaltet man eine Webseite barrierefrei, ist sie aber automatisch besser für alle Nutzenden“, sagte Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte bei Google. Sie nennt die Testergebnisse „erschreckend“. Bei Betroffenen erlebe sie oft eine „Frustration, dass man nicht alleine einkaufen kann“.

Gerade Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen nutzen den Online-Einkauf überdurchschnittlich oft.
Gerade Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen nutzen den Online-Einkauf überdurchschnittlich oft. © iStock | istock

Gesetz zwingt Shopbetreiber ab 2025 zur Nachbesserung

In zwei Jahren, am 28. Juni 2025, tritt daher das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Es setzt eine 2019 von der EU verabschiedete Richtlinie um. „Unter anderem muss der elektronische Geschäftsverkehr, das heißt, der gesamte Kaufvorgang im Internet, barrierefrei gestaltet sein“, sagt Katrin Herdejürgen von der Bundesfachstelle Barrierefreiheit im Gespräch mit unserer Redaktion. Mit anderen Worten: Danach sind Online-Shopbetreiber verpflichtet, ihre Webseiten ohne die jetzigen Barrieren für alle zugänglich anzubieten.

Andernfalls drohen Mahnungen. Wird dann nicht nachgebessert, drohen Geldstrafen von bis zu 100.000 Euro. Ausnahmen gelten nur für kleine Anbieter mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Umsatz unter zwei Millionen Euro. „Wichtig ist, dass sich das Bewusstsein ändert und Unternehmen Barrierefreiheit ganz selbstverständlich angehen und umsetzen, um eine Teilhabe dieser Käufergruppen zu erreichen“, sagt Herdejürgen.

Bedienhilfen: So wird der Browser barrierefrei

Ob Online-Shop oder sonstige Webseiten – schon heute lassen sich bei Bedarf für den eigenen Browser sowie für das Betriebssystem zahlreiche Bedienhilfen einstellen: Unter anderem gibt es Hinweise zur Tastatursteuerung, zum Vergrößern von Texten, zu Vorlesefunktionen und zu Audioverstärkern sowie zum barrierefreien Ansehen von Videos.

Auch für einzelne Anwendungen von Google und Apple finden sich dort nützliche Bedienhilfen, etwa für das Mailprogramm, die Tabellenkalkulation oder den Sprachassistenten.