Sydney. Weil sie ihre vier Kinder getötet haben soll, saß eine Australierin 20 Jahre lang im Gefängnis. Unschuldig, wie sich nun herausstellte.

Im Gerichtssaal spielten sich emotionale Szenen ab: Kathleen Folbigg brach in Tränen aus, ihre Unterstützer standen auf und klatschten lange und laut Beifall, nachdem die drei Richter zu ihrem Beschluss gekommen waren. Beinahe 20 Jahre lang hatte Folbigg im Gefängnis auf dieses Urteil gewartet: Das Gericht räumte „begründete Zweifel“ an ihrer Schuld ein. Kathleen Folbiggs Verurteilung wegen Mordes und Totschlags an ihren vier Kindern wurden aufgehoben.

Der Fall der 56-Jährigen wird inzwischen als einer der größten JustizirrtümerAustraliens beschrieben. Folbigg war bereits im Juni begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen worden, als eine unabhängige Untersuchung zu dem Schluss kam, dass ihre Kinder möglicherweise eines natürlichen Todes gestorben oder wegen einer genetischen Mutation zu Tode gekommen waren.

Fälschlich verurteilt: Australierin beteuerte stets ihre Unschuld

Vor Reportern sagte Folbigg am Donnerstag, sie sei dankbar, dass die neuesten wissenschaftlichen und genetischen Erkenntnisse ihr Antworten auf die Todesursache ihrer Kinder gegeben hätten. „Schon 1999 hatten wir rechtliche Antworten, um meine Unschuld zu beweisen, aber sie wurden ignoriert und abgewiesen“, sagte sie. „Das System und die Gesellschaft müssen nachdenken, bevor sie einem Elternteil die Schuld geben, seine Kinder verletzt zu haben.“

Folbigg war 2003 wegen Mordes an drei ihrer Kinder und wegen Totschlags an einem vierten Kind zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt worden – 30 Jahre davon ohne Bewährung. Die Strafe wurde in einem Berufungsverfahren später auf 25 Jahre verkürzt. Folbigg selbst hatte stets ihre Unschuld beteuert.

Deshalb sprach das Gericht Folbigg schuldig

Diesen Unschuldsbeteuerungen der Mutter hatte vor 20 Jahren aber weder die australische Polizei noch die Staatsanwaltschaft Glauben geschenkt. Dass in einer Familie vier Kinder hintereinander sterben, hielt man für unwahrscheinlich. Dazu kam, dass Folbigg selbst aus einer vorbelasteten Familie stammte. Ihr Vater hatte ihre Mutter 1968 mit 24 Messerstichen getötet – angeblich, da er wütend war, wie sehr diese die damals 18 Monate alte Kathleen vernachlässigte.

Nachdem dann ihre Kinder alle im Alter von wenigen Wochen oder Monaten verstarben, lautete die Theorie: Folbigg habe sie alle in Momenten der Frustration erstickt. Verdachtsmomente kamen vor allem auf, nachdem der Vater der Kinder Tagebücher seiner Frau bei der Polizei abgab. Darin einige Einträge, die auf eine bewusste Tötung hätten hindeuten können.

Es half Folbigg auch nicht, dass sie im Prozess selbst behauptete, eine übernatürliche Macht habe ihr die Kinder weggenommen. Dazu kam, dass sie während der Verhandlungen kaum Emotionen gezeigt haben soll. Dies veranlasste Beobachter zu Vergleichen mit dem Prozess gegen die Australierin Lindy Chamberlain. Diese war zunächst wegen des Mordes an ihrem Baby Azaria verurteilt worden, obwohl sie stets beteuert hatte, ein Dingo habe das Kind entführt. Chamberlain wurde später ebenfalls begnadigt.

Forschergruppe untersuchten vermeintliche Mordfälle

In den Jahren danach mehrten sich dann aber die Verdachtsmomente, dass die Kinder eines natürlichen Todes gestorben sind. Bereits 2021 hatten 90 prominente Forscherinnen und Forscher, darunter Nobelpreisträger und andere führende australische und internationale Wissenschaftler, eine Petition für die Freilassung der Australierin unterzeichnet. Die Forschenden argumentierten mit neuen Untersuchungen, die zeigen würden, dass einige der Kinder genetische Mutationen hatten, die sie für Herzkomplikationen anfällig machten.

Kathleen Folbigg (r.) mit ihrer Kindheitsfreundin Tracy Chapman, die sich jahrelang für die Freilassung der 56-Jährigen eingesetzt hat.
Kathleen Folbigg (r.) mit ihrer Kindheitsfreundin Tracy Chapman, die sich jahrelang für die Freilassung der 56-Jährigen eingesetzt hat. © DPA Images | Dan Himbrechts

„Mein Team sequenzierte zuerst Folbiggs Genom aus Speichelproben, die von der Innenseite ihrer Wange entnommen wurden“, schrieb Carola Garcia de Vinuesa, eine Expertin der Australischen Nationaluniversität in Canberra, die die Untersuchung leitete und die Petition mit unterschrieben hat, im akademischen Online-Magazin „The Conversation“.

Bei der Analyse habe sie herausgefunden, dass die Australierin Trägerin einer Mutation sei, die häufig mit dem Plötzlichen Kindstod in Verbindung stehe. Diese Mutation im CALM2-Gen steuert, wie Kalzium in und aus Herzzellen transportiert wird. Mutationen in diesem Gen sind eine der bekanntesten Ursachen für den Plötzlichen Kindstod. Nachdem die gleiche Mutation bei den verstorbenen Mädchen nachgewiesen werden konnte, schlussfolgerten die Forscher, dass die beiden wahrscheinlich einen plötzlichen Herzstillstand erlitten hatten.

Seltene Ereignisse in der Genetik „an der Tagesordnung“

Auch die beiden Jungen litten nach Aussagen der Forscherin an Krankheiten, die auf einen natürlichen Tod hindeuteten. Einer hatte Atembeschwerden aufgrund von Problemen mit dem Kehlkopf, der zweite litt an epileptischen Anfällen. Obwohl einige der medizinischen Erkenntnisse 2003 noch nicht vorlagen, mahnten die Forscher an, dass auch damals schon Experten hätten zurate gezogen werden können.

Stattdessen sei Folbiggs Fall „aufgrund der Seltenheit solcher Ereignisse“ (vier Kindstote in der Familie, Anm. d. Red.) ausgewählt und ihre Tagebucheinträge als Beweis für ihre Schuld vorgelegt worden. „Ein solcher Ansatz übersieht, dass seltene Ereignisse vorkommen“, schrieb Garcia de Vinuesa. „Und in der Genetik sind seltene Ereignisse an der Tagesordnung.“