Erfurt. Ein Forschungsprojekt interviewt Menschen über ihr Leben in der DDR und der Nachwendezeit und fragt, wie wandelbar Erinnerungen sind.

Schwarz und weiß. Diese Farben herrschten vor, wenn es um die DDR geht, bemerkt Oliana Decker. Sie ist Jahrgang 1963. Jung genug, um die Umbrüche vor 30 Jahren als Chance zu begreifen. Und alt genug um sagen zu können: Das Leben in diesem untergegangenen Land ist nicht mit schwarz oder weiß zu beschreiben, es bestand aus unzähligen Zwischentönen. Wenn sich jemand für den differenzierten Blick interessiert, könne das nur gut sein. Deshalb sei sie hier.

Sie ist eine von etwa 30 Gesprächsteilnehmern, die einer Einladung der Universität Erfurt zu einem Bürgerforum folgten: „Die DDR erzählen“. Es ist Teil eines interdisziplinären Forschungsprojektes, dessen Grundsubstanz nicht Aktenlagen sein sollen, sondern gelebte Leben. Das sei im Übrigen kein universitärer Aktionismus mit Blick auf das 30. Jubiläumsjahr des Wendeherbstes, betonen die Professoren. Das Projekt ist bis 2022 ausgelegt.

Im Detail wollen die Wissenschaftler vier Themen ausleuchten: Konspirative Wohnungen, die von der Stasi genutzt wurden, und Orte, an denen sich die Opposition traf, und was Menschen damals darüber wussten. Was im Heimatkundeunterricht vor und nach der Wende vermittelt wurde, Berufswege- und Umwege von Christen und Familienerinnerungen.

Was Akten, Dokumente und Parteitagsbeschlüsse nicht erzählen

Im Kern geht es um die Frage, was Akten, Dokumente und Parteitagsbeschlüsse nicht erzählen. Und wie sich das, was sie erzählen, zu dem verhält, wie die Menschen ihr Leben erinnern. Und vor allem: Was sie wie erinnern und ob sich Erinnerungen womöglich verändern, gebrochen von späteren Erfahrungen oder nachträglichem Wissen.

Er bemerke an sich, sagt ein Teilnehmer, wie er fast zwanghaft beginne, die DDR und sein Leben darin zu verteidigen, wenn er mit dieser Schwarz-Weiß-Sicht konfrontiert wird. Das beschreibt recht gut eine der Herausforderungen.

Erinnerungen, so eine These, sind wandelbar. Der Grund auch, weshalb die Erzählungen nicht mit dem Wendejahr enden, sondern bis in die 90er-Jahre reichen sollen. Von „partizipatorischer Erinnerungsforschung“ sprechen die Wissenschaftler. Lebenswege als historische Quelle.

Wie habt ihr das nur ausgehalten?

Historikerin Christiane Kuller spricht von einem Auseinanderfallen der Wahrnehmung: die in Gedenkstätten und Archiven dokumentierte DDR vorwiegend als Unrechtsstaat auf der einen Seite, auf der anderen individuelle Lebenserfahrungen, ein oft als positiv erlebter Zusammenhalt im Privaten – was kaum festgehalten ist, weil kaum danach gefragt wurde.

Die Frage sei, wie man das zusammenbringt. Sie interessiert sich vor allem für familiäre Erinnerungen und wie sie in den verschiedenen Generationen ausfallen. Ein sehr offenes Thema, weshalb es wohl auch die Mehrheit der Teilnehmer ansprach. Eine erste Tuchfühlung, bei der vor allem Splitter zusammengetragen werden.

Wie habt ihr das nur ausgehalten? Die Frage werde ihr häufig gestellt, wenn sie westwärts unterwegs ist, erzählt eine Frau, 65 Jahre alt. Aber so war es nicht, versuche sie dann immer zu erklären. „Ich habe nicht unendlich gelitten.“

Man dürfe, sagt eine andere, nicht erst in den 70er-Jahren beginnen. Es gebe bis heute nicht aufgearbeitete Geschichten aus der Nachkriegszeit, sagt sie und spricht von „Verfolgungsbiografien“, in manchen Familien wiederholten sich die Muster.

„Stasi, bemerkt eine Teilnehmerin, sei für sie in der DDR lediglich ein Begriff gewesen, mit dem sie nie in Berührung kam. Welcher Bespitzelungsapparat es wirklich war, habe sie erst nach der Wende erfahren.

Ein Mann erinnert sich an einen Parteisekretär im Eichsfeld, in dessen Zimmer ein Kruzifix hing. Auch das sei DDR-Wirklichkeit gewesen.

Auseinanderfall von Wahrnehmung

Sie habe, erzählt eine Frau mit Blick auf Leben im christlichen Glauben, eine großen Zerrissenheit von Menschen erfahren. Die Erzählungen über den großen Zusammenhalt in den Familien höre sie mit Verwunderung. Sie habe es anders erlebt, der Riss ging durch die Familien. Fast jede Feier endete mit einem Streit. Es war ein Unrechtsstaat, sagt sie. Das Wort „Unrechtsstaat“ könne sie nicht mehr hören, bemerkt eine andere. Sie habe in der DDR gelernt, mit dem Schweigen zu leben, erzählt eine dritte. Ihr ging es gut, aber die Ambivalenzen, mit denen viele Menschen leben mussten, bewegten sie bis heute.

Die von der Universität Erfurt beteiligten Professoren: Jörg Seiler, Christiane Kuller, Sandra Tänzer und Alexander Thumfart (von links).
Die von der Universität Erfurt beteiligten Professoren: Jörg Seiler, Christiane Kuller, Sandra Tänzer und Alexander Thumfart (von links). © Elena Rauch

Ein Mann, heute Mitte 50, erinnert sich an die Wendezeit: „Da waren wir mündig, wir sind auf die Straße gegangen für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, für Demokratie. Nachdem die D-Mark zum Thema auf der Straße geworden ist, habe er das Interesse an den Demonstrationen verloren.

Gut fünf Stunden dauert dieses Gesprächsforum. Streckenweise wirkt es beinahe wie die Anhörung vor einer Kommission zur Wahrheitsfindung. Nicht als Rechtfertigung, auch nicht als verklärende DDR-Nostalgie. Als Gegenentwurf zu Adornos Postulat, wonach es kein richtiges Leben im Falschen gibt. Vielleicht trifft es das.

Einforderung des differenzierten Blicks

Wir wussten, sagt einer der Teilnehmer, um die Schwächen und Zumutungen und haben trotzdem unseren Weg gesucht und ja, wir waren auch glücklich. Wir fragen nicht, wer recht hat und wer unrecht, sagt Patrice Poutrus von der Universität in die Emotionalität hinein. Man wolle wissen, wie die unterschiedlichen Geschichten zusammenhängen. Dies hier sei ein Vorgespräch, auch mit dem Blick auf die weitere Ausrichtung der Forschung. Manche Themen, so eine Erkenntnis, werde man mehr Beachtung schenken müssen. Dem Alltag in den Betrieben zum Beispiel und die Frage, ob man die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft im Rückblick und im Wissen um die Entscheidungen der Treuhand heute womöglich anders erinnert.

Wenn es einen Konsens unter den Teilnehmern gibt, dann ist es die Einforderung des differenzierten Blicks, des Auslotens individueller Lebenserfahrungen. Schade, sagt eine Frau, dass es so spät passiert.

Er habe, konstatiert Alexander Thumfart von der Universität, einen sehr großen Redebedarf erlebt. Sie sei überrascht von der großen Resonanz, bestätigt Professorin Kuller. Allein nach dem ersten Aufruf, sich für Interviews zu melden, seien mehr als 70 E-Mails eingegangen. Ein erstes Fazit? Es sei interessant, welche Themen zur Sprache kamen, und welche nicht.

Die eigentliche Arbeit beginnt erst mit den Interviews

Über die alltäglichen Folgen der Mangelwirtschaft zum Beispiel sprach keiner der Teilnehmer. Vielleicht ein Beleg der These von der Wandelbarkeit von Erinnerungen, die im Rückblick auch Wertigkeiten verändert? Man wird sehen, die eigentliche Arbeit beginnt erst mit den Interviews. Die sollen in ein digitales Archiv einfließen. Zeitzeugendokumente, so der Gedanke, die helfen sollen herauszufinden, wie es wirklich war. Was wirklich war? Respekt vor dem Vorhaben, bemerkt ein Teilnehmer. Doch einen Konsens werde es nicht geben. Nur individuelle Perspektiven.

Das Projekt:

  • Seit Jahresbeginn forschen Wissenschaftler zur Erfahrungsgeschichte der späten DDR und Nachwendezeit.
  • Am Projekt „Diktaturerfahrung und Transformation: Biografische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er-Jahren“ sind neben der Universitäten Erfurt und Jena die Stiftung Ettersberg und die Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora beteiligt.
  • Das Projekt zielt auf Entwicklung und dauerhafte Bereitstellung einer digitalen „Topografie des Erfahrungs-und Handlungsraums DDR“.
  • An der Erfurter Universität sind vier Teilprojekte angesiedelt, die auf Berichten und Erinnerungen von Zeitzeugen aufbauen.
  • Dazu ist die Einrichtung einer Forschungsstelle Zeitzeugenbefragung geplant. Das Projekt wird mit 1,2 Millionen Euro vom Bund gefördert. Zum Mitwirkung laden die Forscher ausdrücklich ein.
  • Interessenten können sich an der Universität Erfurt melden: Telefonisch unter 0361/7371610 oder E-Mail: philfak.ddr_erinnerung@uni-erfurt.de