Steffen Ess über das Schwimmen in Thüringen.

Wer sich ein Bild vom Schwimmen in Thüringen machen möchte, der schaut an der Johann-Sebastian-Bach-Straße in Erfurt vorbei. Die Roland-Matthes-Halle, das nach dem großen Schwimmer benannte Prunkstück des Landes, ist dicht. Wieder einmal seit der Generalsanierung vor gut 20 Jahren ist die Halle vorläufig geschlossen. Und wiederum wegen Baumängeln, die während Umbauar­beiten entdeckt wurden.

Noch Fragen?

Davon gibt es gerade wohl mehr als Antworten. Der sportbegeisterte Zuschauer der überschwänglich gefeierten Finals in Berlin dürfte sich fragen, wo die Thüringer Schwimmer im Kampf um die nationalen Titel abgetaucht sein mögen?

Der Landessportbund könnte sich fragen, ob Schwimmen hierzulande als olympische Kernsportart zählen darf, wenn gerade ein Sportler wie vergangenes Wochenende bei der deutschen Meisterschaft startet?

Und die jungen Talente am Erfurter Leistungszentrum, die müssen sich wie der Thüringer Schwimmverband fragen, wo sie in dem in anderthalb Wochen beginnenden Schuljahr trainieren sollten, wenn ihre Trainingsstätte geschlossen bleibt?

Das Schwimmen in Deutschland, es erlebt Aufstieg und Absturz zugleich. Bei der Weltmeisterschaft in Seoul feiert die urolympische Sportart deutschlandweit mit der besten Medaillenausbeute seit zehn Jahren eine Auferstehung, im Freistaat ist der Schwimmsport in einen Sog geraten, der ihn immer weiter nach unten zu ziehen scheint. Aus einst Olympia-Siegern wurden Olympia-Starter, aus Olympia-Startern immerhin noch deutsche Meister, aus nationalen Titelträgern wurden Teilnehmer. Und 2019? Eine Sportlerin in Berlin, in der Junioren-Wertung.

Den Niedergang dem Verband zuzuschreiben, den Trainern oder Sportlern, wäre oberflächlich. Und es wäre unfair wie falsch. Zumal nicht allein der Schwimmsport baden gegangen ist. Die Gründe liegen tiefer. Sie sind vielschichtig. Kritiker meinen, der Sport spiegelt die Gesellschaft. Der demografische Wandel, fehlende Mittel in den öffentlichen Kassen, immer weniger Talente.

Die Folgen treffen Thüringen. Das Bundesland, das es in der Medaillenwertung der Winterspiele in den 90er- und 2000er-Jahren mit ganzen Nationen aufnehmen konnte, hat im Sommersport Boden eingebüßt, zuweilen den Kontakt selbst zur nationalen Spitze verloren. Das Schwimmen, das als Gesundheitssport Nummer eins gilt und jedermann empfohlen wird, bekommt den Stempel trotz vieler Bemühungen nicht los, Sinnbild für die Sorgen des Leistungssports seit der Jahrtausendwende zu sein.

Das Dilemma umreißt Klaus Höpfner mit wenigen Zahlen. Als der frühere Geschäftsführer des Thüringer Schwimmverbandes vor wenigen Jahren in Ruhestand gegangen ist, saßen noch rund siebzig Schüler in den Schwimmklassen des Erfurter Sportgymnasiums. Vor einem Jahr waren es noch fünfzig. Und in anderthalb Wochen zum Schuljahresbeginn werden es weniger als vierzig sein.

Es können immer weniger Kinder schwimmen, sagt Uwe Richter. Der Ortschef der DLRG Erfurt beklagt obendrein fehlende Freibäder und Schwimmhallen. Vier Hallen hat Erfurt mal gehabt. Von den verbliebenen beiden ist die wichtigste gerade zu.

Wie wohl tut da ein Florian Wellbrock mit seinem historischen WM-Double mit Freiwasser- und Beckentitel. Ein frisches Gesicht. Wellbrock, seine Partnerin , die WM-Silber-Gewinnerin Sarah Köhler, Bronze-Gewinner Rob Muffels, die erfolgreiche Mixed-Staffel im Freiwasser – sie zeigen, dass der Weg wieder nach oben führen kann. Dass Schwimmen cool ist. Und wie wohl tut es auch, dass das Langstreckenschwimmen in Stotterheim nach wie vor ankommt. Dass es Zuspruch findet, gleichwohl das einstige Thüringer Langstreckenteam als Aushängeschild Geschichte ist.

Insofern liegt in der Misere eine Chance. Jeder Wettkampf wie auch der Thüringer Freiwasser-Cup ist gut, weil er Menschen ins Wasser bringt. Doch braucht es auch frische Ideen, um für Kraul und Schmetterling zu begeistern.

Warum nicht mal aus alten Bahnen ausbrechen?

Warum nicht den Triathlon als wachsenden Sport einbeziehen?

Alle sitzen in einem Boot.

Dem deutschen Schwimmsport helfen weiter Erfolge wie bei der WM in Gwangju, dem Thüringer Hoffnung, Dranbleiben und vielleicht neue Wege. Und dem Erfurter? Er bräuchte erst mal wieder eine dritte Schwimmhalle.