Steffen Eß über einen Abend, anders als erwartet.

Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren... Und hier die Mannschaften: Mit der Startnummer eins, Norbert Nigbur...“

Das Publikum in Gotha johlt. Ein paar Sätze der starken Stimme, und alle können sich vorstellen, wie der Mann an jenem 24. Februar 1973 dasitzt auf der Tribüne der Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen. Unten laufen sich Bayern-Stars Schwarzenbeck, Maier und Beckenbauer warm, um die gegen den Abstieg spielenden Schalker Amateurelf ohne ihre wegen eines verschobenen Spiels gesperrten Profis zu überrennen. Und er, 35, ahnungslos, spricht drauf los, wie er sonst beginnt auf Trabrennbahnen. Erst ein Raunen. Dann lachen sich 30.000 Schalke-Fans schlapp.

Es ist der erste Stadion-Einsatz des Werner Hansch damals gewesen. Und wie er nun 47 Jahre später, mit 82, auf der Bühne sitzt und bebildert, wie sein Weg zum Fußball-Kommentator führte, beginnt das Kopf-Kino bei den Hörern.

Guten Abend in Gotha. Willkommen in der Stadthalle, zum „Auswärtsspiel“ des Olaf Seibicke beim „Abend mit...“ unterm Titel 30 Jahre Ost-West-Fußball. Mit Reiner Calmund, mit Überraschungsgast Werner Hansch, coronabedingt ohne Heimvorteil für den Gastgeber vom Hotel Lindenhof. Und krankheitsbedingt vor allem ohne den Großen des Ost-Fußballs, ohne Hans Meyer. Leider. Einige sind vor allem wegen ihm da.

Mancher hat sich vorher wohl ausgemalt, wie sich der Kulttrainer mit Wortwitz und ein mit allen Managerwassern gewaschener Reiner Calmund die Bälle zugespielt hätten. Dafür hört das Publikum Werner Hansch, die Stimme des Fußballs im Revier. Sie bekommen Bilder - schöne, ungeschönte.

Hansch nimmt die Leute mit in die Abgründe seiner Spielsucht. Er verfällt ihr mit knapp 70, erzählt er, verliert sein Geld, das für Anschaffungen, dann auch das von Freunden. Am Ende ist alles weg, der Verstand, der Wille. Er bezieht Prügel seiner Lebensgefährtin und ist nun dabei, sich mithilfe einer Therapie herauszukämpfen.

Reiner Calmund erinnert an seine Verbindung zur DDR, an Wasserthaleben, woher seine Mutter stammt, an die Besuche bei der Verwandtschaft in Berka, ans Klo übern Hof und den Kuchen aus dem Backhaus. Er beschreibt seine Magenverkleinerung und benennt sein Botschaftertun fürs Kinderhospiz zur Herzensangelegenheit.

Und der frühere Macher bei Leverkusen redet viel über Fußball. Wie er einen Junioren-Trainer mit Koffer losschickt. Als Arzt soll er sich ausgeben, wird dann doch lieber als Fotograf für das WM-Qualifikationsspiel Österreich gegen die DDR akkreditiert, um an die Adresse von Andreas Thom zu kommen. Die Mauer ist gefallen. Sechs Tage später steht der gewiefte Manager vor der Tür des Berliner Top-Spielers, umgarnt ihn wie später die Dresdner Ulf Kirsten und Mathias Sammer, die ebenfalls unterschreiben. Dass Sammer nur nicht zu Bayer wechselt, sondern nach Stuttgart, weil Bundeskanzler Helmut Kohl den Spitzen der Bayer AG ins Gewissen redet, erfahren die Gäste in Gotha nicht. Sie hören viel anderes. Hansch und Calmund fassen weite Bögen und treffen sich beim Kapital. Wie der Fußballer halb Mensch, halb Ware ist.

Die Gäste genießen Ziegenkäse, Rinderbacke und Kürbiscremesuppe. Eine mit Karamba, wie Feinschmecker Calmund goutiert. Großer Sport der Küche und eine Zugabe für einen runden „Abend mit...“, anders als erwartet.

Mit den Höhen und Tiefen eines Fußballspiels, mit für den einen oder anderen wohl zu wenigen Geschichten aus 30 Jahren Ost-Fußball, der mehr und mehr in der Versenkung verschwindet.

Vier Stunden in Gotha mit der bewegenden Lebensbeichte des Werner Hansch, mit Mitgefühl und einer feinen Art des Gastgebers, auch schwere Bilder leicht sein zu lassen. Ein Abend mit der Fußnote einer unplanbaren Zeit durch Corona und manch offener Frage.

Wann „Vizekusen“ Deutscher Meister werden würde, möchte einer im Saal wissen. „Ich glaube, ich erlebe es auch nicht mehr“, antwortet Reiner Calmund.

„Guten Abend“, schließt er, während in Prag der Abpfiff der Europa-League-Partie ertönt. Leverkusen bei Slavia - 0:1. Gute Nacht.