Berlin. Sahra Wagenknecht gewährte seltene Einblicke in ihr Innenleben. Wie Dauerbelastung Arbeitnehmer trifft, wurde in der politischen Talkshow aber nur angerissen.

Das Feuer war erloschen. Die Begeisterungsfähigkeit, der Elan, andere mitzureißen – wie weggeblasen. Erst fehlte für einzelne Termine die Kraft. Und dann wurde alles zu viel. „Ich habe mir gesagt: So kann, so möchte ich nicht weiter leben“, sagte Sahra Wagenknecht, die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, bei Anne Will am Sonntagabend.

Im TV-Studio gewährte die Spitzenpolitikerin einen seltenen Einblick in ihr Innenleben. „Es war so, dass ich überhaupt nicht mehr konnte, es ging gar nichts mehr“, berichtete Wagenknecht. Zwei Monate lang zog sich die Politikerin aus der Öffentlichkeit zurück, um wieder zu Kräften zu kommen. „Die Frage ist ja auch, wie viel bewegt man noch, wenn man innerlich immer ausgebrannter wird?“.

Die enorme Belastung als Fraktionsvorsitzende ihrer Partei habe ihr zugesetzt. Den Begriff „Burnout“ wollte Wagenknecht trotzdem nicht in den Mund nehmen. Die Konsequenz, die sie zog: Wagenknecht will nicht erneut für die Linken-Fraktionsspitze kandidieren. Bei Anne Will sagte sie aber, dass sie politisch aktiv bleibe.

Es ist selten, dass Politiker Schwäche zeigen. Dass sie bekennen, unter welchem Druck sie stehen. Und sich eingestehen, dass es zu viel wird. Sahra Wagenknecht beschrieb es so: „Ich möchte ja Menschen gewinnen. Und wenn man sich innerlich leer fühlt, dann wird das immer schwerer“. Es war ein mutiger Auftritt der Linken-Frontfrau, einer, der Respekt verdient. Und es wäre ein wunderbarer Aufhänger gewesen, um über das eigentliche Thema der Sendung – „Zwischen Höchstleistung und Überlastung – wann macht Arbeit krank? – zu diskutieren.

Dauerbelastung und Stress im Job: Es kann jeden treffen

Denn: Auch Millionen Arbeitnehmer kennen das Gefühl, dass der Druck im Job steigt. Die Zahl der Krankheitstage lag allein wegen psychischer Erkrankungen 2017 bei 107 Millionen Fehltage. Es sind also nicht nur Spitzenpolitiker und Top-Manager, die unter Dauerbelastung leiden. Es kann jeden treffen.

Doch so ehrlich und offen Wagenknecht und auch der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bei Anne Will über persönliche Verletzungen, Krankheit und Dauer-Beobachtung in der Politik sprachen, so schnell landeten sie auch wieder bei erwartbaren Aussagen – immer dann, wenn es allgemein wurde.

Wagenknecht beklagte eine Arbeitswelt, die Menschen krank mache. De Maizière hielt dagegen, dass es eher zu viel als zu wenig Regulierung im Arbeitsrecht gebe. Man könnte auch sagen: Es war der übliche Disput, wenn Linke und Konservative auf die Job-Welt blicken.

Pflege-Azubi legt den Finger in die Wunde

Deutlich spannender – und vermutlich für die meisten Zuschauer auch nachvollziehbarer – war das, was der Pflege-Azubi Alexander Jorde aus dem Berufsalltag zu berichten hatte. Wenn etwa Konzerne Krankenhäuser übernehmen und auf Profit trimmen. Wenn Patienten möglichst schnell wieder entlassen werden sollen – und Ärzte und Pfleger mit der Arbeit nicht mehr hinterherkommen.

Jorde, inzwischen selbst Mitglied der SPD, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 in der ARD-Wahlarena mit den Missständen im Pflegesystem konfrontiert. Und auch in Anne Wills Runde legte er den Finger in die Wunde. „Es ist die enorme Arbeitsbelastung vor Ort, die Stress erzeugt“, sagte er.

Diesmal war es die FDP-Politikerin Katja Suding, die beim Versuch, darauf zu antworten, nicht gut aussah. Die Liberalen wünschen sich schließlich mehr Privatisierung – auch im Gesundheits- und Pflegebereich. Einer Diskussion darüber, was das für die Beschäftigten bedeutet, wich Suding aber mehrfach aus. Sie sprach lieber von den „Chancen der Digitalisierung im Pflegebereich“. Klingt auch besser. Immerhin so viel: Auch sie sei natürlich nicht dafür, die Arbeitsbelastung noch weiter zu verdichten.

Was macht krank: Arbeitsverdichtung oder ständige Erreichbarkeit?

Zwischen dem, was Spitzenpolitiker auf der einen und Pflegepersonal auf der anderen Seite erleben, gibt es aber noch die Erfahrungen von Millionen Arbeitnehmern. Wie sich die Arbeitswelt für diese Menschen entwickelt hat, wurde nur angerissen. Sind flexible Arbeitszeiten und Home Office ein Gewinn oder schüren sie nur neue Abhängigkeiten? Ist es die Arbeitsverdichtung, die krank machen kann oder eher das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen?

Dass die Zahl der Fehltage wegen psychischer Krankheiten steigt, ist alleine noch kein Beleg – weder in die eine, noch in die andere Richtung. Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, Prof. Dr. Klaus Lieb, sagte, dass mehr Menschen Hilfe in Anspruch nehmen, weil es weniger stigmatisiert sei. Und die Medizin in der Diagnostik immer besser werde. Also alles nur eine Frage der Perspektive?

Zumindest was die Politik angeht, wollten weder Sahra Wagenknecht noch Thomas de Maizière davon sprechen, dass der Preis für Arbeit und Einsatz zu hoch sei. Ein Spitzenpolitiker dürfe nicht über mediale Dauer-Beobachtung und interne Machtkämpfe klagen, wenn er in der ersten Reihe stehe, sagte Sahra Wagenknecht.

So sei eben das Geschäft. Bis man merkt: Es geht nicht mehr.