Straßburg. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über die Krise der EU – und die mögliche Zukunft von Angela Merkel.

Es sind Tage des Abschieds in den europäischen Institutionen. Das Parlament hat gerade ein letztes Mal getagt, Ende Mai wird es neu gewählt. Damit endet auch die Amtszeit der EU-Kommission und ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker. Im großen Interview mit unserer Redaktion holt der Luxemburger zum Rundumschlag aus – und wird am Ende ganz persönlich.

Herr Juncker, was sagen Sie jenen, die der Krise Europas mit mehr Europa begegnen wollen?

Jean-Claude Juncker: Ich rede lieber von einem besseren Europa. Die Europäische Union befindet sich in der Krise, das höre ich, seit ich in Brüssel aktiv bin – also seit Dezember 1982, so ein Veteran bin ich. Damals hat man von der Eurosklerose gesprochen. Davon redet heute niemand mehr. Mich beeindruckt das also nicht so sehr. Ein besseres Europa brauchen wir in der Migrationsfrage. Die Europäische Kommission hat sieben Vorschläge zur Reform des Asylsystems vorgelegt. Leider wurden sie bisher von den Mitgliedstaaten nicht verabschiedet.

Wer ist dafür verantwortlich, dass es nicht vorangeht?

Die nationalen Regierungen kommen oft nicht zu Potte. Jeder macht regelmäßig sein eigenes Ding, anstatt sich um das Gemeinsame zu bemühen. Alles wäre besser, wenn man zum Beispiel die klugen Vorschläge der Kommission zum europäischen Asylrecht umgesetzt hätte. Flüchtlinge, Migranten und illegale Zuwanderer sind ein gesamteuropäisches Thema. Wir brauchen eine solidarische Antwort und müssen zu einem Umverteilungssystem kommen. Es ist ein Unding, dass sich einige Staaten – Ungarn, Polen und andere – beharrlich gegen diese Lösung wehren.

Deutschland hat die Kontrollen an der Grenze zu Österreich um ein weiteres halbes Jahr verlängert. Haben Sie dafür Verständnis?

Man hört immer wieder, Europa brauche einen besseren Schutz der Außengrenzen. Die Kommission hat also vorgeschlagen, bis 2020 zehntausend zusätzliche europäische Grenzbeamte in Stellung zu bringen. Die nationalen Regierungen wollen sich dafür jetzt bis 2027 Zeit lassen, obwohl es permanent von allen Dächern Europas ruft: Die Außengrenzen müssen besser geschützt werden. Ich wünsche mir Ehrgeiz und Tempo von den nationalen Regierungen.

Bedeutet konkret?

Es ist eine Irrfahrt, dass einige Mitgliedstaaten wieder Grenzkontrollen innerhalb Europas eingeführt haben und diese auch weiterführen möchten. Sie begründen das immer mit dem mangelnden Schutz der Außengrenzen. Aber warum haben sie dann dem Vorschlag der Kommission nicht vorbehaltlos zugestimmt? Dann würde sich die Frage nach den Binnengrenzen schon heute nicht mehr stellen.

Die Briten werden die EU verlassen – oder haben Sie Hoffnung, dass es noch zum Exit vom Brexit kommt?

Das ist nicht meine Arbeitshypothese. Wir müssen vorbereitet sein auf einen sanften wie auf einen harten Brexit. In jedem Fall wird der Austritt negative Folgen haben – für die Briten mehr als für die EU. Eine Lösung im Sinne des Binnenmarkts wird es nicht geben. Die Verantwortung dafür sehe ich zu hundert Prozent auf der britischen Seite.

Was versprechen Sie sich von dem Aufschub bis zum 31. Oktober, den Sie den Briten gewährt haben?

Ich wünsche mir, dass die Briten diese Zeit nutzen und nicht wieder vergeuden. Unendlich oft können wir das Austrittsdatum nicht verschieben. Die beste Lösung wäre, dass die Briten in der jetzt vereinbarten Nachspielzeit das Austrittsabkommen annehmen. Dann haben wir geklärte Fronten. Viele diskutieren immer nur Brexit, Brexit, Brexit, als ob es keine anderen Probleme gebe. Einmal muss Schluss sein mit diesem Brexit-Gezeter.

Wäre eine Teilnahme der Briten an der Europawahl nicht absurd?

Die Briten sind aller Wahrscheinlichkeit nach am Tag der Europawahl noch in der Europäischen Union. Dann gilt der EU-Vertrag, wonach EU-Bürger in allen Mitgliedstaaten das Recht haben, an den Europawahlen teilzunehmen. Wir können ja nicht jetzt die Bürger dafür bestrafen, dass es die Briten nicht hingekriegt haben, zum vereinbarten Termin auszutreten.

Ist es ausgemacht, dass der Sieger der Europawahl auch den nächsten Kommissionspräsidenten stellt?

Ich bin ein großer Anhänger dieses Spitzenkandidaten-Modells. Die stärkste Partei sollte jedenfalls das Vorschlagsrecht haben. Demokratisch sauber wäre es, wenn der Sieger der Europawahl auch Kommissionspräsident würde.

Es gibt Spekulationen über die Zukunft der Bundeskanzlerin. Können Sie sich Angela Merkel in der europäischen Politik vorstellen?

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Angela Merkel in der Versenkung verschwindet. Das wäre auch schade. Ihr Wort wird in der Politik weiterhin Gewicht haben. Ich kann mir deutsche und europäische Dinge nicht gut vorstellen ohne Angela Merkel. Sie ist nicht nur eine Respektsperson, sondern ein liebenswertes Gesamtkunstwerk.

Hoffen Sie, dass Angela Merkel ein europäisches Amt übernimmt?

Hoch qualifiziert wäre sie. Ich finde es allerdings nicht gut, wenn man so tut, als würde sie das Kanzleramt schon morgen verlassen. Die Wahlperiode endet 2021. Bis dahin wird Angela Merkel noch einiges in Bewegung bringen.

Herr Juncker, welchen Satz möchten Sie einmal über sich in den Geschichtsbüchern lesen?

Er hat sich redlich bemüht.

Das reicht Ihnen?

Ja, das reicht. Nicht jeder bemüht sich redlich. Schön wäre vielleicht noch der Zusatz: Er hat einige Dinge in Ordnung gebracht.

Wie sehen Ihre Pläne aus?

Ich werde mich schriftlich äußern – zu dem, was war, und zu dem, was aktuell passiert.

Es gibt anhaltende Gerüchte über Ihren Gesundheitszustand. Wie geht es Ihnen?

Ich habe immer noch Ischias. Deshalb habe ich einige Bewegungsprobleme, was die britische Presse oft groß aufhängt und anderen Gründen zuschreiben will. Oft gehe ich auch schräg, weil ich mal einen Autounfall hatte. Aber ich beklage mich nicht. Mir ist in meinem Leben fast alles gelungen. Es geht mir gut.

So wählen die 28 EU-Mitgliedsstaaten

Die Wahl zum Europäischen Parlament findet vom 23. bis zum 26. Mai in den 28 Mitgliedsstaaten statt. In Deutschland wird am Sonntag, den 26. Mai, gewählt. In der Regel dürfen EU-Bürger ab 18 Jahren teilnehmen, in Österreich ist man allerdings schon mit 16 Jahren wahlberechtigt, in Griechenland mit 17 Jahren. Anders als bei der Bundestagswahl hat jeder Bürger nur eine Stimme. Es gilt das Verhältniswahlrecht. Das EU-Parlament wird alle fünf Jahre gewählt.

Trotz angepeiltem Brexit wird aktuell davon ausgegangen, dass die Briten an der Wahl teilnehmen, da die Frist für den EU-Austritt zuletzt bis zum 31. Oktober verlängert wurde. Theoretisch denkbar ist allerdings auch, dass Großbritannien den Brexit doch noch vorher hinbekommt – und dann die für den 23. Mai festgesetzte Wahl absagt. Die Teilnahme Großbritanniens würde sowohl die Sozialdemokraten als auch die Rechtspopulisten europaweit stärken. Die Labour-Partei darf den Umfragen zufolge auf 26,5 Prozent hoffen, die Konservativen von Premierministerin Theresa May können nur mit 16,5 Prozent rechnen. Die neue Brexit-Partei und die EU-feindliche Ukip kommen diesen Angaben zufolge auf je 13,5 Prozent.

96 Abgeordnete aus Deutschland sitzen im EU-Parlament, Frankreich stellt 74, Italien und Großbritannien je 73. Nur jeweils sechs Abgeordnete kommen aus Malta, Luxemburg, Zypern und Estland. Das Europäische Parlament tagt abwechselnd in Straßburg oder Brüssel. Dem zukünftigen Parlament werden 705 Abgeordnete angehören. Aktuell sind es 751.