Berlin. Union und SPD wurden bei den Wahlen abgestraft. Für die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles wird es eng, in der CDU regt sich ebenfalls Kritik.

Als um 18 Uhr die ersten Prognosen über die Bildschirme in den Parteizentralen von CDU, CSU und SPD flimmerten, war klar, dass es für die Volksparteien ein schlimmer Wahlabend wird. Für die SPD kommt es ganz finster.

Schauplatz Willy-Brandt-Haus, Parteizentrale der SPD: Totenstille bei den Sozialdemokraten. Niemand im gut gefüllten Atrium der Parteizentrale klatscht. Bis zuletzt hatte die SPD gehofft, dass sie in Sachen Europa mit einem blauen Auge davonkommt. „Leute, ihr seid der Wahnsinn“, hieß es noch vor Schließung der Wahllokale in einer WhatsApp-Nachricht an SPD-Sympathisanten. Von „#SozenLiebe“ ist da die Rede. Die Wähler lieben nur noch wenig an der ältesten deutschen Partei. Rund 1,3 Millionen Wähler verliert die SPD bei Europa an die Grünen. Die Ökopartei liegt erstmals bei einer nationalen Wahl auf Platz zwei.

Ist das die Wachablösung bei den Volksparteien? Der Blick in den Norden, wo die Weser immer rot war, spendet an diesem historischen Abend keinen Trost. In der einstigen SPD-Hochburg Bremen gewinnt nach 73 Jahren wohl erstmals die CDU. Vielleicht schafft es SPD-Bürgermeister Carsten Sieling, sich im ersten rot-grün-roten Bündnis im Westen an der Macht zu halten.

Jetzt werden sie in der SPD nach Schuldigen suchen. Im Endspurt gab die Partei ein verheerendes Bild ab. Die bei der Abkehr von Hartz IV bewiesene Geschlossenheit zerbröselte mit jedem Tag, den die Wahlen näher rückten. Juso-Chef Kevin Kühnert fiel Nahles mit einem kühnen, aber wenig durchdachten Sozialismus-Ritt in den Rücken. Danach wurde die Vorsitzende mit Durchstechereien an die Medien madig gemacht. Rechnungen werden beglichen. Der von Nahles ausgebootete Sigmar Gabriel legt am Abend nach. Er fordert von ihr sofortige Konsequenzen. „In Berlin müssen jetzt diejenigen Verantwortung übernehmen, die den heutigen personellen und politischen Zustand in der SPD bewusst herbeigeführt haben“, sagt er dem „Tagesspiegel“. Gabriel führte fast acht Jahre die SPD.

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Um 18.43 Uhr kommt die Parteichefin auf die Bühne. „Die Ergebnisse, die wir bisher kennen, sind für die SPD ex­trem enttäuschend.“ Die Grünen seien nun zweitstärkste Kraft. „Ich sage in Richtung Grüne: Glückwunsch!“ In Bremen stünden die Grünen bei Rot-Grün-Rot vor einer Richtungsentscheidung: „Wollen sie eine progressive Mehrheit, ja oder nein?“ Der eigenen Partei ruft Nahles ein „Kopf hoch“ zu. Das gilt für sie selbst auch.

Freiwillig will die 48-Jährige keine Macht abgeben. Dass es am Montag im Parteivorstand einen Aufstand gibt, gilt als eher unwahrscheinlich. Der Aufstand der frustrierten „Silberrücken“ Schulz und Gabriel kann ihr helfen. Nahles bittet um Rückendeckung. Die SPD müsse zusammenhalten und in der Koalition für sozial gerechte Politik sorgen. Reicht das? Oder wollen die GroKo-Gegner den Exit?

Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley („Ich habe alles gegeben. Mehr ging nicht“), die nach Brüssel geht, schickt noch am Abend ihr Rücktrittsgesuch an die Kanzlerin. Mitte der Woche will Nahles eine neue Justizministerin präsentieren. Eng könnte es im September werden. Dann wählen Brandenburg und Sachsen, danach muss Nahles sich in der Fraktion zur Wiederwahl stellen. Ein Machtverlust in Potsdam könnte zu viel für die gedemütigte Partei sein.

Schauplatz Konrad-Adenauer-Haus, Parteizentrale der CDU: Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) ist vorgewarnt. Die im Frühjahr in Umfragen gesetzte Marke von 30 Prozent war in den letzten Wochen gerissen worden. Die 56-jährige Saarländerin weiß, dass es für sie unbequemer wird in der CDU.

Die CDU-Chefin tritt zusammen mit dem EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber und dem CSU-Chef Markus Söder um kurz nach halb sieben vor die Presse. Ihre Botschaft ist kämpferisch. Das Wahlziel, stärkste Kraft zu werden, sei erreicht. Manfred Weber habe ein klares Mandat aus Deutschland bekommen, an die Spitze der EU als Kommissionspräsident zu wechseln. Sie erwarte, dass die SPD dies mittrage.

Die CDU-Chefin führt die Verluste auch auf die teils wenig überzeugende Arbeit der großen Koalition zurück. Bei der Regierungsarbeit habe es nicht die Dynamik gegeben, die die Bürger erwarteten, sagt Kramp-Karrenbauer. Sie räumt Fehler ein, etwa beim Klimaschutz und bei dem Umgang mit der digitalen Welt. Dafür würde man die Ärmel hochkrempeln. Applaus im Adenauer-Haus.

CSU-Chef Markus Söder analysiert: „Alte Maßstäbe, wie wir sie bislang hatten, gelten nicht mehr.“ Er fordert: „Wir müssen als Union insgesamt daran arbeiten, wieder jünger, cooler, offener zu werden. Wir müssen mit den Themen und der Kommunikation so agieren, dass wir nicht von gestern wirken.“

Söder spielt hier an auf den ungelenken Umgang mit dem millionenfach geklickten Anti-CDU-Video des Youtubers Rezo. Darin heißt es, die CDU zerstöre mit Blick auf das Thema Klimaschutz „unser Leben und unsere Zukunft“. Die CDU reagierte spät, zu spät. In der Partei ist vielen zwar bewusst, dass der Umgang mit der digitalen Kritik schwierig ist. Doch das späte Krisenmanagement lastet man dem jungen Generalsekretär Paul Ziemiak durchaus an.

Freuen kann man sich über das Ergebnis in Bremen. Dass man dort laut Prognose vor der SPD landete, macht den Bürgerlichen Mut. Selbst wenn am Ende keine schwarz angeführte Regierung herauskommt. Aber, so die Hoffnung, eine schwarz-grün-gelbe Regierung könnte ein Signal für den Bund sein.

Was ist das hier?

AKK hat die CDU seit ihrem Sieg über ihren Herausforderer Friedrich Merz bei der Wahl zum Parteivorsitz befriedet. Sie ist auf ihre Kritiker zugegangen, hat den Wirtschaftsflügel durch die Einbindung von Merz und deutliche Positionen in der Migrationsfrage beruhigt. Unterschätzt hat sie möglicherweise dabei die Frau, die sie nach Berlin geholt hat und deren Nachfolgerin sie werden will. Angela Merkel hat sich aus der Innenpolitik zwar öffentlich weitestgehend verabschiedet, macht aber keine Anstalten, sich vorzeitig zurückzuziehen. Im Gegenteil, an ihr wird es liegen, wie gut sich die deutschen Posten und Positionen in Brüssel niederschlagen.

Kramp-Karrenbauer habe zuletzt handwerkliche Fehler begangen, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Die Union habe sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass das Dauerthema Migration aus den Schlagzeilen verschwinde. Doch auf das Megathema Klimaschutz, das vor allem die „Fridays for Future“-Demonstrationen populär machte, habe man zu spät reagiert. Und keine einheitliche Position gehabt. Die Kanzlerin hat die Schüler-Demos gelobt. Von Kramp-Karrenbauer hieß es dazu, sie würde ihren Kindern dafür keine Entschuldigung schreiben. Diese Zweideutigkeit wurde abgestraft.