Moskau. Ein neues Gesetz erschwert es Reservisten, sich vor der Einberufung zu drücken. Nun fürchten Millionen Russen, dass sie kämpfen sollen.

Das neue Gesetz, im Eilverfahren durchs Parlament gepeitscht und von Russlands Präsident Wladimir Putin unterschrieben, klingt harmlos: nach Verwaltungsvereinfachung, nach Digitalisierung und nach Modernisierung. Und doch hat es weitreichende Konsequenzen für Millionen Reservisten in ganz Russland. Und könnte zu einer neuen Ausreisewelle führen.

Im Netz wird es bereits heftig kommentiert. Einer schreibt: „Schande über alle unsere Abgeordneten, die, ohne das Gesetz zu lesen, ohne darüber zu diskutieren oder Änderungen vorzunehmen, gedankenlos für seine Annahme gestimmt haben.“ Und ein anderer: „In diesem Zusammenhang empfehle ich zum ersten Mal seit Beginn des Krieges mit der Ukraine vor mehr als einem Jahr meinen Bekannten und Freunden, Russland vorübergehend oder für längere Zeit zu verlassen.“

Doch worum geht es? Bislang musste ein Einberufungsbescheid dem Adressaten persönlich zugestellt werden, was für das Militär zuweilen schwierig war. Denn viele Menschen in Russland leben nicht dort, wo sie offiziell registriert sind. Sprich: Man konnte der Einberufung entgehen. Trotzdem haben Hunderttausende bereits bei der ersten Teilmobilisierung im vergangenen Jahr das Land verlassen. Bei einer möglichen neuen Mobilisierungswelle kann nun niemand mehr der Einberufung entgehen – zumindest wenn er noch in Russland lebt. Dies ist der Kern des neuen Gesetzes.

Einberufungsbescheid wird elektronisch zugestellt – Reservisten in Panik

Jetzt wird der Bescheid elektronisch zugestellt. Auf einem Verwaltungsportal namens „Gosuslugi“. Er gilt als zugestellt – auch wenn der Betreffende sein Postfach dort nicht öffnet, nichts von dem Bescheid weiß. Wer keinen Account auf dem Portal hat oder ihn einfach löscht, hat keine Chance. Der Bescheid kann auch per Post zugestellt werden, mit dem Einwurf in den Briefkasten gilt er als zugestellt. Viele Reservisten in Russland, die es treffen könnte, sind in Panik.

Das gemeinsame Rekrutierungszentrum für den Wehrdienst unter Vertrag nahm im April in Moskau seine Arbeit auf.
Das gemeinsame Rekrutierungszentrum für den Wehrdienst unter Vertrag nahm im April in Moskau seine Arbeit auf. © dpa | Vlad Karkov

Darüber hinaus ist ein detailliertes Register aller Wehrpflichtigen vorgesehen. Mit Angaben zum Gesundheits- und Bildungszustand, Wohn- und Arbeitsort, zum Vorliegen einer ausländischen Staatsangehörigkeit oder einer Aufenthaltserlaubnis in einem anderen Staat. Alles wird in diesem Register festgehalten. Das Innenministerium, die Steuerbehörde, Gerichte, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie andere Organisationen müssen Informationen an das Register übermitteln.

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Die Folgen des Gesetzes seien weitreichend, sagt die Politikwissenschaftlerin Tatiana Stanovaya. Dabei gehe es nicht nur um Änderungen in der Organisation der Einberufung zum Militärdienst, sondern um die Neuformatierung des traditionellen Systems staatlicher Zwangsmaßnahmen – es werde ein groß angelegter Mechanismus zur digitalen Kontrolle über die Bürger geschaffen.

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Kreml-Sprecher Peskow dementiert zweite Mobilisierungswelle

Kremlsprecher Dmitri Peskow wiegelt ab. Auf Journalistenfragen nach einer weiteren Mobilisierungswelle sagt er: „Es gibt keine zweite Welle.“ Das neue Gesetz solle keine Panik in der Bevölkerung auslösen oder zu einer neuen Auswanderungswelle führen, zitiert die Zeitung Kommersant den Sprecher. „Mit diesen Änderungen korrigiert Russland unverzüglich die Mängel im militärischen Registrierungssystem, die 2022 aufgedeckt wurden“, erklärt der Duma-Abgeordnete Andrej Kartapolow.

Kremlsprecher Dmitri Peskow dementiert Berichte über eine neue Mobilisierungswelle.
Kremlsprecher Dmitri Peskow dementiert Berichte über eine neue Mobilisierungswelle. © dpa | Alexei Nikolsky

Ob nun die von vielen Menschen in Russland befürchtete neue Mobilisierung von Reservisten kommt oder nicht, die Strafen bei Nichtbeachtung eines Einberufungsbefehls sind drakonisch. Innerhalb von 20 Tagen nach der rechtsgültigen Zustellung muss der Betreffende beim Einberufungsamt erscheinen. Wer nicht rechtzeitig kommt, kann keine Zulassung als selbstständiger Einzelunternehmer beantragen, bekommt bei der Bank keinen Kredit mehr, und darf sogar kein Auto mehr zulassen oder fahren.

Die russische Söldnergruppe Wagner hingegen setzt bei ihrer Rekrutierungsoffensive nicht auf staatlichen Zwang sondern auf Geld. Freiwilligen bietet man für den Ukraine-Einsatz einen Sold von rund 2700 Euro monatlich. Versprochen werden außerdem Erfolgsprämien. Gesucht werden Männer im Alter zwischen 21 und 60 Jahren für den Einsatz im Kriegsgebiet. Ein abgeschlossener Wehrdienst ist keine Voraussetzung. Die Söldnertruppe hat zuletzt etwa im Kampf um Bachmut in der Ostukraine viele Kämpfer verloren, und ist deshalb dringend auf frisches Personal angewiesen.

Mögliche neue Mobilisierungswelle ist Gesprächsthema in Russland

Die mögliche neue Mobilmachung, die Kämpfe in der Ukraine, sind inzwischen Gesprächsthema in vielen russischen Familien. Das hat das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Levada in einer Umfrage herausgefunden. 46 Prozent der Befragten gaben an, darüber in der Familie, im Freundes- und Kollegenkreis zu diskutieren. 13 Prozent beteiligen sich laut eigener Aussage an derartigen Diskussionen nicht. In 40 Prozent aller Familien ist die „Spezialoperation“ überhaupt kein Thema. Allerdings: Öffentlich äußern zu diesem heiklen Thema würden sich nur vier Prozent der Befragten.

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In der Anonymität sozialer Netzwerke geht es dagegen unverblümter zu, werden die neuen Regelungen heftig kommentiert. „Jetzt können Sie per Mail von der Verkehrspolizei erfahren, dass sie die Fahrerlaubnis eingeschränkt haben und das Auto beschlagnahmen“, befürchtet einer. Ein anderer: „Wie kann ein Militärkommissar die Aufnahme eines Kredits verbieten? Ist er eine BANK?“ Und schließlich: „Welche Bürger unter solchen Bedingungen Söhne gebären wollen, ist eine SEHR offene Frage.“

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