Berlin. Die westrussische Grenzregion Belgorod gerät unter Beschuss. Die Ukraine muss aufpassen, dass keine zivilen Ziele attackiert werden.

Der Ukraine-Krieg weitet sich aus. Er geht in die nächste, gefährliche Phase. Fast täglich gerät die westrussische Region Belgorod unter Beschuss, die an die Ukraine grenzt. Dabei schlagen nicht nur Artilleriegeschosse auf russischem Territorium ein. Auch Soldaten und Panzer greifen an.

Im Nebel des Krieges ist die Lage undurchsichtig. Offenbar steckt hinter den Attacken nicht direkt die ukrainische Armee. Es soll sich um Privatmilizen wie „Russisches Freiwilligenkorps“ und „Legion Freiheit Russlands“ handeln, die zum Teil aus rechtsextremen Russen bestehen. Beide kämpfen in der Ukraine mit ukrainischen Truppen gegen die Russen. Neuerdings will auch das polnische Freiwilligenkorps, eine Spezialeinheit, an den Gefechten in Belgorod beteiligt sein. Von offiziellen Stellen in Warschau wurde das jedoch nicht bestätigt.

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Das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht aus der Region Belgorod Bilder von brennenden Wohnhäusern und berichtet von Toten. Das mag Teil der Moskauer Propaganda sein, um die Ukraine als „Terrorstaat“ zu diskreditieren – im Krieg ist bekanntlich das erste Opfer die Wahrheit.

Angriffe auf Zivilisten und zivile Gebäude wie Schulen oder Krankenhäuser sind tabu

Doch die Regierung in Kiew muss aufpassen. Angriffe auf Zivilisten und zivile Gebäude wie Schulen oder Krankenhäuser sind tabu. Könnte man der Ukraine das nachweisen, würde die moralische Glaubwürdigkeit im Verteidigungskampf gegen den Aggressor Russland beschädigt. Es würde die noch immer breite Unterstützung in den westlichen Gesellschaften für das attackierte Land untergraben.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Ukraine befindet sich in einem Dilemma. Die Angriffe auf russisches Territorium sind ein strategisches Ablenkungsmanöver. Sie sollen dazu führen, dass russische Truppen aus der Ukraine abgezogen und im Kernland stationiert werden. Das heißt, die russische Kampfkraft in der Ukraine wird geschwächt. Zweitens sollen die russischen Nachschublinien unterbrochen werden. Diesem Ziel dienen ukrainische Drohnen- und Raketenattacken auf Treibstofflager oder Munitionsdepots in Westrussland.

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All dies hat zum Zweck, die erwartete Gegenoffensive der Ukraine vorzubereiten. Es ist zwar gerechtfertigt, wenn die Ukraine militärische Infrastruktur in Russland zerstört, um Angriffe auf das eigene Land zu verhindern. Aber es gibt zwei rote Linien, die Kiew nicht überschreiten darf.

Der Ukraine-Krieg ist auch eine Schlacht zwischen Freiheit und Hyper-Autokratie

Erstens: Zivile Ziele in Russland sind sakrosankt. Aus westlicher Sicht ist der Ukraine-Krieg auch eine Schlacht zwischen Freiheit und imperialistischer Hyper-Autokratie, personalisiert durch die Galionsfigur Wolodymyr Selenskyj und den Protagonisten Wladimir Putin. Daraus speist sich die Legitimität des ukrainischen Kampfes. Zweitens: Westliche Waffen dürfen von der Ukraine für die Verteidigung des eigenen Territoriums eingesetzt werden, aber nicht für Attacken auf russisches Gebiet.

Das hat US-Präsident Joe Biden ebenso deutlich gemacht wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Beide haben die Befürchtung, dass Angriffe auf russisches Gebiet mit westlichen Waffen die Gefahr einer Eskalation in sich bergen – nämlich einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato.

Die militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen sollte eine klare Linie haben: Das attackierte Land sollte alles bekommen, was ihm die Rückeroberung der besetzten Territorien ermöglicht. Aber selbst dieser Kurs ist in der neuen Phase des Krieges nicht ohne Risiko. Es liegt auch an der ukrainischen Regierung, dass es so gering wie möglich gehalten wird.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt