Kiew. Posen vor Ruinen, Panzerfahrten durch eine zerbombte Stadt, Almosen für Einwohner: Russische Tiktoker vermarkten sich im Kriegsgebiet.

Das okkupierte Mariupol, die drittgrößte Stadt der ostukrainischen Industrieregion Donbass, gehört zu jenen Orten, die im Laufe des Ukraine-Krieges die meisten Zerstörungen hinnehmen musste. Vor der Invasion im vergangenen Februar zählte die Stadt mehr als 400.000 Einwohner. Die Zahl der Zivilisten, die während der Straßenkämpfe zu Kriegsbeginn ums Leben gekommen sind, ist aufgrund der russischen Besatzung schwer zu verifizieren. Manche gehen von Zehntausenden Toten aus.

Die Regierung in Kiew hatte seit Beginn des Donbass-Krieges 2014 viel Geld in Mariupol investiert, um aus der Asow-Stadt einen Vorzeigeort im Kontrast zu den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu machen. So wollte die Ukraine die Sympathien der Menschen in den vom Kreml kontrollierten Regionen zurückgewinnen. Umso bitterer wirken die Bilder, die eine Gruppe russischer Influencer, allen voran der Tiktok-Star Rrustemka mit 141.000 Followern, Anfang Juni aus der Stadt zeigten.

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Wie der Blogger selbst auf Instagram schreibt, dürfe „die ausgebrannte Stadt nun erleichtert aufatmen“ – immerhin sei sie befreit worden – durch die russische Armee. In einem Video ist Rrustemka auch auf einem russischen Panzer ist zu sehen, gemeinsam mit einem Kollegen in russischer Armeeuniform. Mit wehenden Haaren fahren sie durch Mariupol, im Hintergrund reichlich beschädigte Häuser.

Ziel der Influencer: Das Legitimieren der russischen Besatzung

Dass russische Panzer die Stadt erst in diesen Zustand gebracht haben – eine Stadt, die seit 2014 einen massiven Sprung gemacht hat und bemerkenswerte Sommer-Musikfestivals auf die Beine stellte. Darüber verliert Rrustemka kein Wort. Stattdessen fluten russische Influencer die sozialen Medien mit Fotos und Videos von sich, wie sie hipp und modern vor den Trümmern der Stadt posieren oder sogar Essen an die Einheimischen verteilen – es sind absurde Bilder, die wohl nur dafür gebraucht werden, um die Tragödie von Mariupol und das brutale russische Vorgehen bei den Kämpfen dort zu legitimieren.

Dass sich die jungen TikToker tatsächlich für die Lage der Menschen in Mariupol interessieren, ist unglaubwürdig. Denn das Phänomen ist in Syrien schon seit längerer Zeit zu beobachten: Influencer werden systematisch dafür genutzt, um das Assad-Regime sowie die Präsenz der russischen Armee zu normalisieren. Positives Feedback hat Rrustemka für seine Beiträge kaum bekommen. In den Kommentaren wird ihm sogar die „Fetischisierung“ des Angriffskriegs von Wladimir Putin vorgeworfen. Dennoch macht er weiter.

Russische Influencer wie Sofia Makeewa (im Bild) posieren vor Ruinen in der besetzten ukrainischen Stadt Mariupol. Der Trend sorgt auch in Russland bei vielen für Kopfschütteln.
Russische Influencer wie Sofia Makeewa (im Bild) posieren vor Ruinen in der besetzten ukrainischen Stadt Mariupol. Der Trend sorgt auch in Russland bei vielen für Kopfschütteln. © Sofia Makeeva/vk.com | Sofia Makeeva/vk.com

Seit Anfang des Jahres sind die Reisen der russischen Influencer in die zerstörte Ukraine immer wieder ein Thema in den Medien. Erste Schlagzeilen machte im Januar auch Katja Snap, die inzwischen 155.000 Follower auf Instagram hat. In Russland hat Snap ein bekanntes Schmucklabel. Als Juwelierin steht die Bloggerin für sogenannte „alternative Schmuckstücke“ – in der Vergangenheit hat sie etwa Stacheldraht imitierende Armbänder auf den Markt gebracht. Auf der Suche nach Inspiration reiste Snap zu verlassenen Fabriken, war auch in Tschernobyl – und nun eben im russisch besetzten Mariupol.

Heftige Kritik an russischen Trümmer-Posern – selbst von Kriegsbefürwortern

Besonders ein Foto sorgte für einen Skandal: Katja Snap steht in ausschließlich schwarzer Kleidung und einem über die Nase gezogenen Schal vor einem stark beschädigten Plattenbau. Die Fenster sind ausgebrannt, die Wände haben Dutzende Einschusslöcher, in der Mitte des Gebäudes fehlen die ersten zwei Stockwerke quasi komplett – offensichtlich, weil dort ein Panzer oder Ähnliches durchgefahren war. Die Idee hinter dem Bild unterschied sich kaum von früheren Werken Snaps, dennoch war die Resonanz selbst von Kriegsbefürwortern miserabel. Snap sah sich gezwungen, sie zu löschen.

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Für ähnliche Diskussionen sorgte Walentina Korobejnikowa (mehr als 370.000 Follower auf TikTok): Die Sängerin, die durch Gesangvideos mit Ukulele an überwiegend verlassenen Orten bekannt wurde, hat Mariupol demonstrativ als „russische Stadt“ bezeichnet. „Ich bin in Russland geboren und reise durch mein Land“, schrieb sie auf Instagram, um im nächsten Satz zu behaupten, dass sie „mit der Politik nichts zu tun“ habe. Auch sie hat ihre Posts später gelöscht. Familienbloggerin Sofija Makejewa (rund 100.000 Abonnenten) posierte ebenfalls in nachdenklichen Posen vor den Trümmern – unter dem Vorwand, ihre Follower über das schwierige Leben in Mariupol informieren zu wollen.

Makejewas Reise wurde angeblich von freiwilligen Helfern organisiert, doch auf Fotos von der Verteilung etlicher Hilfsgüter ist sie nicht zu sehen. „Die Romantisierung der Ruinen ist zwar an sich nichts Neues“, reagierte der russische Journalist Lew Lewtschenko in einem vieldiskutierten Beitrag für das Portal The Village auf solche Trümmer-Reisen. „Sowas gibt es seit 200 Jahren. Ein riesiger Unterschied liege jedoch zwischen den Ruinen einer mittelalterlichen Burg und den Häusern, in denen Anfang 2022 noch ein ruhiges, friedliches Leben herrschte.“

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