Pabrade. In Litauen bekommt Verteidigungsminister Pistorius die Unruhe an der Nato-Ostflanke zu spüren. Wie der Minister die Lage einschätzt.

Der weiße Gefechtsdampf mischt sich mit dem gelb-grauen Staub, den der deutsche Schützenpanzer Marder im trockenen litauischen Sandboden aufwirbelt. Schließlich kommt die Nachricht: Gemeinsam mit litauischen Kräften haben die Bundeswehrsoldaten den feindlichen Angriff an der Nato-Ostflanke abgewehrt. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Litauens Präsident Gitanas Nauseda erfahren unmittelbar davon.

Sie sitzen im Schatten auf der VIP-Tribüne und haben das Geschehen auf dem Truppenübungsplatz Pabrade samt Live-Kommentar verfolgt: Für das Manöver „Griffin Storm“ hat die Bundeswehr zusätzlich zu dem dauerhaften Kontingent in Litauen rund 1000 Soldaten hierher verlegt. Eine „spektakuläre Vorführung”, lobt Pistorius im Anschluss.

Putschversuch in Russland zeigt Instabilität des Kreml-Regimes

Mit dem Manöver wird geübt, was die Nato am meisten fürchtet: ein russischer Angriff auf das Bündnisgebiet. Der Aufstand der russischen Söldnertruppe Wagner gegen die Führung in Moskau hat die Angst vor einem Übergreifen des Ukraine-Konflikts auf das Bündnisgebiet noch einmal verschärft. Besonders in Litauen: Die kleine Ex-Sowjetrepublik grenzt an die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad und an Belarus, das bisher eng an der Seite des russischen Machthabers Wladimir Putin steht. Dorthin soll Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ins Exil gehen. Es wird befürchtet, dass er seine Truppen mit sich bringen könnte.

Der Machtkampf in Russland wird von vielen Experten als Schwächung Putins interpretiert. Was passiert, wenn sein Regime zerfällt? „Russland wird zu einer instabilen Zone“, warnt Litauens Verteidigungsminister Arvydas Anusauskas nach einem Gespräch mit Pistorius. „Wie können wir darauf reagieren?“

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Litauens Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas (v. l.) in Pabrade.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Litauens Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas (v. l.) in Pabrade. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Das Bündnis hat noch keine Antwort auf diese Frage. Die Bundesregierung wurde von dem Putschversuch in Russland überrumpelt. Wäre es zu einer schnellen Erosion des Putin-Regimes gekommen, hätte dies die westlichen Verbündeten unvorbereitet getroffen. „Dies ist die Frontlinie der Nato, wo es keinen Platz selbst für die kleinste Sicherheitslücke gibt“, mahnt Litauens Präsident Nauseda die Allianz. Die Ereignisse des Wochenendes hätten die Instabilität des Kreml-Regimes gezeigt. „Wir können in Zukunft mit ähnlichen, wenn nicht größeren Herausforderungen rechnen“, fügt er hinzu.

Alle aktuellen Entwicklungen zum Putschversuch in Russland finden Sie im Blog.

Nato beobachtet Situation in Russland

„Die Situation in Russland scheint sehr instabil zu sein und schwer einzuschätzen“, sagt Pistorius. Die im Raum stehende Verlegung der Wagner-Truppen trage „sicherlich nicht zur Klarheit der Lage bei“, räumt der deutsche Verteidigungsminister ein. Ob bereits Wagner-Söldner in Belarus sind, kann Pistorius nicht bestätigen. In der Nato wird nach seinen Worten darüber beraten, wie die Allianz in eine „Hab-Acht-Stellung“ gehen könne, um im Ernstfall „schnell reagieren zu können“.

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Litauens Staatschef Nauseda zählt auf, was er für die Absicherung der Nato-Ostflanke für erforderlich hält: Luft- und Raketenabwehr, eine verstärkte Präsenz alliierter Streitkräfte im Baltikum – es brauche eine „effektive Abschreckung“, fordert er. „Wir können schnell reagieren, wenn es erforderlich ist“, versichert Stoltenberg. „Wir beobachten die Situation in Russland.“

Der Nato-Generalsekretär ist jedoch demonstrativ zurückhaltend, er spricht von einer „innerrussischen Angelegenheit“. Keine Provokation Putins, scheint die Devise. Der Kreml-Herrscher soll nicht den Eindruck bekommen, dass die Nato eine Rolle bei seinem möglichen Sturz spielen wollte.

Bundesregierung will 4000 Soldatinnen und Soldaten in Litauen stationieren

Grundlegende Entscheidungen über die Aufstellung der Nato angesichts der Bedrohung aus dem Osten vom Nato-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius sind in zwei Wochen zu erwarten. Dann werde auch über Sicherheitsgarantien für die Ukraine gesprochen, sagt Pistorius.

Ein Panzer bei der Übung „Griffin Storm“ der deutschen eVA-Brigade (eVAenhanced Vigilance Activities Brigade) in Litauen.
Ein Panzer bei der Übung „Griffin Storm“ der deutschen eVA-Brigade (eVAenhanced Vigilance Activities Brigade) in Litauen. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Eine konkrete Ankündigung macht der deutsche Verteidigungsminister jedoch an diesem Tag bereits, die ein wichtiges Signal der deutschen Unterstützung an Litauen und die anderen Staaten an der Ostflanke der Nato wie Estland, Litauen und Polen ist. Deutschland wird „dauerhaft eine robuste Brigade“ plus Fahrzeugen und Waffen in Litauen stationieren, kündigt Pistorius an. Rund 4000 Soldatinnen und Soldaten soll die Einheit umfassen. Damit kommt die Bundesregierung einer Forderung Litauens nach.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte die Bundesregierung angekündigt, die deutsche Truppenpräsenz in Litauen mit einer Kampfbrigade zu verstärken. Bisher sollte aber nur ein etwa 20-köpfiger „Gefechtsstand“ dauerhaft vor Ort sein – zum Missfallen der Regierung in Vilnius. Der Rest der Truppe sollte in Deutschland in den Startlöchern für den Ernstfall stehen und immer wieder für zeitlich begrenzte Übungen nach Litauen verlegt werden.

Verlegung keine kurzfristige Reaktion, sondern langfristiges Projekt

Im Kalten Krieg sei Deutschland die Ostgrenze der Nato gewesen, sagt Pistorius. „Wir waren diejenigen, die sich stets darauf verlassen konnten, dass die Nato-Partner im Ernstfall uns zur Seite stehen würden.“ Nun bekenne sich Deutschland zu seiner Verantwortung für die Sicherheit der Allianz, begründet der Verteidigungsminister die Entscheidung.

Pistorius betont jedoch, dass die Verlegung der Brigade ein langfristiges Projekt und keine akute Reaktion auf die Krise des Putin-Regimes oder eine mögliche Verlegung der Wagner-Söldner nach Belarus sei. Die Brigade lasse sich nicht „aus dem Stand heraus“ nach Litauen bringen, hebt der SPD-Politiker hervor. Denn die Kasernen, die Übungsplätze, die erforderlichen Depots für Gerät und Munition müssten von Litauen ebenso erst noch gebaut werden wie Unterkünfte für die Angehörigen der deutschen Truppen.

Infrastruktur soll bis 2026 aufgebaut sein

Litauens Verteidigungsminister Anusauskas kündigt an, diese „Hausaufgaben“ so schnell wie möglich erledigen zu wollen. Die deutsche Brigade soll schrittweise in dem Umfang verlegt werden, in dem Litauen die militärische Infrastruktur ausbaut. Deutschland hat jetzt bereits etwa 800 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft in der früheren Sowjetrepublik präsent, ist die Kampfbrigade einmal vollständig vor Ort, dürfte das der größte deutsche Auslandseinsatz sein.

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Auf dem Truppenübungsplatz Pabrade wird bereits viel gebaut und gebuddelt. Bis 2026 will Litauen die Infrastruktur für die vollständige Präsenz der deutschen Kampfbrigade aufbauen, wenn möglich ein Jahr eher. Die aktuellen Entwicklungen des Wochenendes in Russland sorgten auch bei den deutschen Soldaten in Litauen „für eine leicht angespannte Situation“, wie einer für die Übung hierher verlegter Feldwebel berichtet.

Einen lockeren Moment gibt es aber dennoch: Bei einer Pressekonferenz zum Abschluss des Manövers wird Nato-Generalsekretär Stoltenberg nach den Auswirkungen auf das Schlachtfeld in der Ukraine gefragt. „Was wir in Russland beobachten, demonstriert die Schwäche des deutschen Regimes“, antwortet der Norweger. „Des deutschen Regimes?!?“, fährt Pistorius ihm amüsiert in den Versprecher. „Entschuldigung, aber wir sind im Moment sehr stabil.“