Berlin. Fast täglich wurde Detlev Zander als Kind in einem evangelischen Heim vergewaltigt. Ein Gesetz soll Menschen wie ihm helfen.

Als Detlev Zander die Vergangenheit nicht mehr verdrängen, nicht mehr abschütteln konnte, als er die Erinnerung an das Geschehene nicht mehr wie mit einem Panzer überrollen konnte, da wurde er krank. Zander konnte nicht mehr schlafen, es dauerte nicht lange, da verlor er seine Arbeitsstelle. Weil er keinen Ausweg aus dem Leben mit dem Trauma wusste, versuchte Zander, sich umzubringen. Der Versuch scheiterte.

Einen Satz hat er sich damals gesagt, erzählt Zander heute: „Entweder kämpfen oder abtreten.“ Er entschied sich fürs Kämpfen. Und verklagte die Kirche auf 1,3 Millionen Euro Schadenersatz.

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Detlev Zander ist heute 63 Jahre alt. Er war noch ein Kind, aufgewachsen ohne Eltern, als die Gewalt begann. Zander lebte damals in einem Heim der evangelischen Kirche in Baden-Württemberg. Der Hausmeister hat ihn jahrelang missbraucht, auch vergewaltigt. Meist unten, im Fahrradkeller der Einrichtung. Fast täglich, sagt Zander.

Betroffener: „Dann ist das ein weiteres Staatsversagen“

Kämpfen, also. Das ist Zanders Weg aus der eigenen Vergangenheit, aus dem Leid. Er kämpft für sich, aber auch für die Rechte anderer Betroffener, ist Sprecher des Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD). Dort sitzen Betroffene von sexualisierter Gewalt und helfen bei der Aufarbeitung. Gerade treten die Mitglieder für bundesweit geltende Regeln für Anerkennungszahlen durch die Kirche ein.

Der Sprecher der Betroffenen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche, Detlev Zander. Er hat selbst Missbrauch als Kind erfahren müssen.
Der Sprecher der Betroffenen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche, Detlev Zander. Er hat selbst Missbrauch als Kind erfahren müssen. © epd | Jens Schulze

Und Detlev Zander setzt viel Hoffnung in ein neues Gesetz. Ein Gesetz, das Menschen wie ihm helfen, ihnen mehr Rechte und mehr Gehör verschaffen soll. Ein Gesetz, das die Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP in ihrem Koalitionsvertrag 2021 mit nur wenigen Worten ankündigte: Die Arbeit des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ werde die Regierung „gesetzlich regeln“, kurz: das UBSKM-Gesetz.

Einige Monate ging es mit dem Vorhaben in der Ampel-Regierung nicht voran, bei Betroffenen wie Zander wuchs die Enttäuschung. „Wenn das Gesetz nicht kommt, dann ist das ein weiteres Staatsversagen. Schon jetzt hat der Staat durch Wegschauen zu lange Verbrechen in der Kirche und anderen Institutionen toleriert“, sagt Zander.

Ministerium will grünes Licht geben fürs Missbrauchs-Gesetz

In der Bundesregierung heißt es, es habe „Abstimmungsbedarf auf fachlicher Ebene“ gegeben. Nach Recherchen unserer Redaktion kommt nun Bewegung in die Sache, auch das Bundesfinanzministerium signalisiert Zustimmung, will das Gesetz. Und neue Details werden bekannt.

Missbrauchsbeauftrage des Bundes, Kerstin Claus.
Missbrauchsbeauftrage des Bundes, Kerstin Claus. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Laut den Plänen der Regierung soll das Gesetz Betroffene darin unterstützen, an Information zu gelangen, „über konkrete Beratung, wie man Akteneinsicht bekommt oder Unterstützung, wenn das nicht funktioniert“, sagt Kerstin Claus im Gespräch mit unserer Redaktion. Seit 2022 ist Claus die Unabhängige Beauftragte, die UBSKM. Hinter der sperrigen Bezeichnung verbirgt sich eine große Aufgabe. Claus, Ex-Journalistin und in ihrer Jugend selbst von Missbrauch betroffen gewesen, soll die Stimme der vielen Menschen in Deutschland sein, die sexualisierte Gewalt erfahren haben.

Betroffene stoßen auf Widerstände bei Akteneinsicht

Der Bund will Betroffenen besser helfen, vor allem im Umgang mit Institutionen wie der Kirche, aber auch mit Jugendämtern, mit Schulen. Es geht nicht nur um die großen Skandale, sondern auch um Einzelfälle. Denn genau das ist es, was die Opfer nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahrzehnten allein bewältigen mussten. Momente, in denen Kirchenvertreter die Gewalt nicht anerkennen wollten, in denen ihr Leid verharmlost worden sei.

Die Betroffenen stießen auf Widerstände, auch bei Akteneinsicht. Und jede Kirchengemeinde behandelte Fälle von Missbrauch unterschiedlich, zahlte mal keine Entschädigung, mal mehr, meist wenig. Missbrauchsbeauftragte Claus sagt: „Es ist ein Ziel dieser Bundesregierung, bei dem Thema nicht nur in die Vergangenheit zu schauen, sondern auch Konsequenzen zu ziehen, künftig sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen so gut es geht zu verhindern und so früh wie möglich aufzudecken.“

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    Eine Studie soll mit dem Gesetz einhergehen. Wissenschaftler sollen Schülerinnen und Schüler der neunten Klassen in allen Bundesländern befragen, sogar ein Forschungszentrum gründet die Bundesregierung dafür, Jahresetat: 1,7 Millionen Euro. Denn bisher gibt es kaum verlässliche Zahlen über das Ausmaß sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen – nicht nur in der Kirche.

    Kirche zahlte Zander nicht eine Million, aber 20.000 Euro

    Während Missbrauch in katholischen Gemeinden schon länger bekannt ist, galt die evangelische Kirche immer als die „bessere Institution“. Anfang des Jahres wurde bekannt, wie erschreckend hoch das Ausmaß der Gewalt ist. Forscher zählen 2225 Betroffene, und 1259 Täter. Das ist nur das „Hellfeld“. Die tatsächliche Zahl Betroffener liegt weit höher. Das Dunkelfeld will die Bundesregierung mit dem geplanten Zentrum besser einordnen.

    Detlev Zander, der in seiner Kindheit vergewaltigt wurde, lobt das Gesetz, einerseits. Es schaffe Standards für Aufklärung und Aufarbeitung, sodass Institutionen wie die Kirche in Zukunft „nicht mehr so fahrlässig und teilweise menschenverachtend mit Geschädigten umgehen können“. Andererseits hätte Zander sich mehr gewünscht, etwa eine Festlegung der Anerkennungszahlungen der Institutionen an die Opfer für das ergangene Leid.

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    Ein Gericht lehnte damals die Klage von Zander über mehr als eine Million Euro Schadenersatz ab, die Kirche berief sich laut Berichten unter anderem darauf, dass der Anspruch verjährt sei. Und zahlte einen „symbolischen Betrag“, wie Zander heute sagt. Es waren 20.000 Euro.