Berlin. Der Kremlchef zeigt nach dem Anschlag mit dem Finger in Richtung Ukraine. Wird er den Krieg nun eskalieren – und den Westen testen?

Der Terroranschlag auf eine Konzerthalle nahe Moskau hat die Welt erschüttert und wirft viele Fragen auf, unter anderem diese: Wie wird sich der russische Präsident Wladimir Putin rächen? Fragen und Antworten zur Attacke im Überblick.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein islamistisches Attentat handelt?

Viele Indizien deuten darauf hin, dass der IS-Khorasan, ein Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), hinter dem Terroranschlag steckt. Das Bekennerschreiben des IS wurde auf sämtlichen Propaganda-Kanälen der Islamisten-Gruppierung veröffentlicht. Diese verbreitete auch ein Video, das die Attentäter beim Anschlag in Krasnogorsk zeigen soll. Die Sprache und die Formulierungen entsprächen den Bekennerschreiben vergangener Attacken, sagen Terrorismusexperten.

Welche Ungereimtheiten gibt es?

Die vier Hauptverdächtigen waren offenbar Richtung Ukraine unterwegs. Dies wurde durch ein Video bestätigt, das im Netz kursiert und einen der Attentäter beim Ort Khatsun in der grenznahen russischen Region Brjansk zeigen soll. Der Clip wurde vom kremlkritischen Online-Medium „Meduza“ geolokalisiert. Dies beweist allerdings nicht, dass die Regierung in Kiew etwas mit dem Anschlag zu tun hat. Es könnte auch sein, dass sich die Attentäter in der Ukraine vor dem Zugriff der russischen Geheimdienste in Sicherheit bringen wollten.

Russland: Nationaler Trauertag nach Terroranschlag - mehr als 130 Tote

weitere Videos

    Warum griffen die Attentäter ausgerechnet jetzt an?

    Der IS-Ableger IS-Khorasan verübt seine Anschläge nicht als Reaktion auf konkrete Ereignisse. Wichtig ist für die Islamisten die Symbolwirkung. Man habe eine „große Ansammlung von Christen“ treffen wollen, hieß es im Bekennerschreiben des IS. Der darin ebenfalls enthaltene Hinweis auf Russlands Rolle in den Kriegen in Tschetschenien, Afghanistan oder Syrien ist Teil der islamistischen Propaganda.

    Lesen Sie auch: Bestätigt ein Folter-Video Putins „ukrainische Spur“?

    Seit etwa einem halben Jahr hat der IS-Khorasan christliche Ziele im Westen im Visier. Das unterstreichen die Anschlagspläne gegen den Kölner Dom vor Weihnachten oder den Wiener Stephansdom. Der IS ist heute in diverse regionale Ableger in Afghanistan, Syrien oder Westafrika zersplittert, die dezentral agieren.

    Weshalb wurden ausländische Geheimdienstwarnungen ignoriert?

    Die US-Botschaft in Washington veröffentlichte am 7. März auf ihrer Website einen dringenden Sicherheitshinweis. Ihr lägen Informationen vor, „wonach Extremisten unmittelbar bevorstehende Pläne haben, große Versammlungen in Moskau anzugreifen, darunter auch Konzerte“. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die USA ihre konkreten Geheimdienstinformationen über die Gefahr islamistischer Attacken in Moskau mit der russischen Regierung geteilt.

    Präsident Wladimir Putin tat diese Warnungen wenige Tage später als westliche „Propaganda“ ab, die Russland „destabilisieren“ wolle. Für den Kremlchef ist die Parallelität eines extrem aufwendigen Ukraine-Krieges und islamistischen Terroranschlägen nicht ungefährlich. Er hatte sein Präsidentenamt 2000 mit dem Versprechen angetreten, nach den chaotischen Jelzin-Jahren für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Zwei Krisenherde bergen für ihn die Gefahr des Kontrollverlusts. Deshalb zeigt er mit dem Finger auf die ukrainische Regierung als Drahtzieherin des Terroranschlags.

    Wer sind die Festgenommenen?

    Nach Angaben des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wurden elf Verdächtige festgenommen. Darunter seien die vier Haupttäter des Terroranschlags. In russischen Medien hieß es, die Attentäter stammten aus der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan, deren Bevölkerung zu 90 Prozent aus Muslimen besteht. Das Fluchtauto, ein weißer Renault, wurde in der russischen Region Brjansk gestellt, nahe der ukrainischen Grenze.

    Warum zeigt Putin auf die Ukraine?

    Der Ukraine-Krieg ist für Putin nur ein Schauplatz einer großen Schlacht: Russland kämpft demnach gegen die Nato und die USA, die die Ukraine mit Waffen vollpumpten. Der Westen wolle Russland vernichten, so Putin. In dieser kruden Logik hat alles, was Russland schadet, seinen Ursprung in der Ukraine, die Putin als „Nazi-Land“ etikettiert. Ein Terrorangriff in Moskau ist für Putin eine Attacke auf seine Legitimität als die Garantie-Instanz für Sicherheit – auch wenn er von Islamisten verübt wurde. Es ist zu erwarten, dass der Kremlchef den Krieg gegen die Ukraine verschärfen wird. Die Drohung mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen ist vorerst ein Instrument in Putins Einschüchterungsrhetorik. Sollte Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen im November gewinnen, könnten eventuelle Hemmungen wegfallen.

    Es gibt Reste des Widerstands. Dennoch steht die Mehrheit der Russen nach Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts hinter Putin. 
    Es gibt Reste des Widerstands. Dennoch steht die Mehrheit der Russen nach Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts hinter Putin.  © AFP | Mikhail Metzel

    Wie könnte sich Putin rächen?

    Die Angriffe gegen die Ukraine werden massiv ausgeweitet. Und Putin könnte höhere Risiken eingehen, um Europa und Amerika zu testen. So hat ein gegen den Westen der Ukraine gerichteter russischer Marschflugkörper nach Angaben aus Warschau in der Nacht zum Sonntag für rund 40 Sekunden den polnischen Luftraum verletzt. Zudem nahm das russische Militär die ukrainischen Großstädte Kiew und Charkiw sowie die Region Lwiw im Westen des Landes ins Visier.

    Mehr dazu: Jetzt droht die nächste Eskalation im Ukraine-Krieg

    Wie wird der Anschlag Russland verändern?

    Die Repressionen werden zunehmen. Putin wird die Anschläge möglicherweise nutzen, um innere Säuberungen einzuleiten. In Moskau wird der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe lauter. Möglicherweise wird eine neue Teilmobilisierung für den Krieg gegen die Ukraine gestartet.

    Verliert Putin den Rückhalt im Land?

    Sollte es zu weiteren Terroranschlägen kommen, würde dies an Putins Nimbus als Wahrer von Sicherheit und Stabilität nagen. Die Protestaktionen bei der Präsidentschaftswahl und die demonstrativen Trauerbekundungen am Grab des Regimekritikers Alexej Nawalny zeigten, dass es zumindest Reste von Widerstand im Land gibt. Dennoch steht die Mehrheit der Russen nach Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts hinter Putin. Der Präsident bekäme vermutlich erst dann erhebliche Probleme, wenn es im Ukraine-Krieg ernsthafte Rückschläge gäbe und Russland von einer nicht kontrollierbaren Terrorwelle erschüttert würde. Auslöser wäre dann aber weniger die Bevölkerung als eine Revolte von innen: aus Kreisen von Militär, Geheimdiensten oder Sicherheitsapparat.

    Ist es möglich, dass russische Stellen in den Terrorakt verwickelt sind?

    Ausgeschlossen ist nichts. Beweise in diese Richtung liegen allerdings nicht vor. Es gibt jedoch Präzedenzfälle. Ende September 1999 hatte ein Mann im Ort Rjasan beobachtet, wie Unbekannte mehrere schwere Säcke in den Keller eines Wohnhauses trugen. Die alarmierte Polizei stellte fest, dass sich in diesen Säcken der bei den vorherigen Terrorattacken verwendete Sprengstoff Hexogen sowie ein Zeitzünder befanden. Die Ermittlungen ergaben, dass die Unbekannten Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB waren.

    Das bestätigte später FSB-Chef Nikolai Patruschew, der heute Chef des Nationalen Sicherheitsrates und einer der engsten Vertrauten Putins ist. Nach der offiziellen Darstellung des Geschehens hat es sich bei der Aktion um eine Übung gehandelt. In den Säcken habe sich kein Sprengstoff befunden, sondern Zucker.