Moskau. Tausende Häuser sind überflutet, Notunterkünfte eingerichtet – doch das Wasser steigt. Eine Jahrhundert-Katastrophe bahnt sich an.

Nach den Dammbrüchen in der Großstadt Orsk im Bezirk Orenburg, 1700 Kilometer östlich von Moskau, bahnt sich in Russland eine Jahrhundertkatastrophe an. Und noch dazu eine hausgemachte. Denn die Dämme waren nur auf eine Wasserhöhe von 5,5 Metern ausgelegt, durch die schnelle Schneeschmelze liegt der Pegelstand des Ural derzeit aber bei über neun Metern. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat bereits ein Strafverfahren wegen Fahrlässigkeit eingeleitet. Mehrere Zehntausend Häuser standen unter Wasser.

Wie das Zivilschutzministerium mitteilte, hat der Hochwasserscheitel mittlerweile Orsk passiert und soll bis zum Mittwoch kommender Woche in der Region um die Gebietshauptstadt Orenburg liegen. Nach Angaben der Orenburger Stadtverwaltung erreichte das Wasser am Montagmorgen einen Stand von 8,93 Metern – als kritisch gilt eine Marke von 9,30 Metern. Der Bürgermeister sagte, die Situation werde sich in den kommenden zwei Tagen weiter verschlechtern.

Dammbruch in Orsk: Tausende auf der Flucht

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    Wie der stellvertretende Zivilschutzminister Viktor Jazuzenko sagte, soll es sich um ein Rekordhochwasser handeln. Ein derartig hoher Wasserstand sei bei dem Fluss Ural noch nie zuvor festgestellt worden. Präsident Wladimir Putin ordnete die Bildung einer Sonderkommission der Regierung an, die sich um die Bewältigung der Folgen des Hochwassers kümmern soll.

    Nach der Region Orenburg am Sonntag, riefen am Dienstag zwei weitere Regionen r den Notstand aus. „Die Hochwasservorhersage verschlechtert sich rapide, es kommt viel mehr Wasser an, und schneller“, erklärte Wadim Schumkow, Gouverneur der Region Kurgan im Ural, im Onlinedienst Telegram. Sein Amtskollege aus der westsibirischen Region Tjumen gab an, der Notstand helfe, im Fall einer Zuspitzung der Lage schnell zu reagieren.

    „Der Wasserstand steigt. Mein Auto ist überflutet, das Badzimmer auch. Es ist nichts mehr übrig geblieben“, beschreibt ein Bewohner die Situation in Orsk. Zehntausende seien durch das Hochwasserüberflutet worden, hatten die Behörden der Region mitgeteilt. Allein in Orsk stünden 4500 Häuser unter Wasser. Auf Videos und Bildern ist zu sehen, dass teils nur noch Dächer aus dem Wasser ragen.

    Bislang wurden in Orsk elf Notunterkünfte für mehr als 8000 Menschen eingerichtet. Rettungskräfte berichteten, dass sich die Menschen zum Teil einer Evakuierung widersetzten, weil sie auf eine Besserung der Lage hofften. Doch die ist nicht in Sicht. Nach Angaben des Pressedienstes des Regionalgouverneurs wird es eine Normalisierung der Lage frühestens am 25. April geben. Medizinische Versorgung in der Großstadt gibt es nur noch eingeschränkt, wird auf Telegram berichtet. Es wird nur eine notärztliche Versorgung in zwei Krankenhäusern angeboten. Die Gesundheitsministerin der Region Orenburg, Tatjana Sawinowa, sagte, dass der medizinische Dienst von Orsk unter extremen Bedingungen funktioniert.

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    Auch in anderen Flüssen der Region stiegen die Wasserstände. In Russland sind nach Behördenangaben mehr als 10.400 Wohngebäude durch den über die Ufer getretenen Fluss Ural überschwemmt worden. Betroffen seien 39 Regionen, teilte das Katastrophenschutzministerium mit. Putin sprach laut Kreml per Telefon mit Gouverneuren verschiedener betroffener Regionen. Überschwemmungen seien auch in der sibirischen Region Tjumen sowie in Kurgan unvermeidlich. In der Stadt Kurgan mit über 300.000 Einwohnern wurde eiligst eine Evakuierung auf einer Flussseite angeordnet. Unterdessen beorderte Putin Zivilschutzminister Alexander Kurenkow in die Region Orenburg. Er sprach von einer „kritischen Lage“. Trinkwasser sowie Aufbereitungsanlagen würden benötigt. Die lokalen Behörden wollten mit Impfungen gegen Hepatitis beginnen.

    Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Nach Angaben des Pressedienstes des Regionalgouverneurs wird es in Orsk eine Normalisierung der Lage frühestens am 25. April geben.
    Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Nach Angaben des Pressedienstes des Regionalgouverneurs wird es in Orsk eine Normalisierung der Lage frühestens am 25. April geben. © AFP | Anatoliy Zhdanov

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    Eine der Ursachen für die Überschwemmungskatastrophe ist Schlamperei örtlicher Behörden. 2020 hatte die technische Aufsichtsbehörde Rostechnadsor den Damm in Orsk untersucht. Dabei wurden 38 Mängel festgestellt und deren Behebung angeordnet. Es ist unklar, ob dies auch geschehen ist. Der Bürgermeister von Orsk hatte erst in der vergangenen Woche bei einem Ortstermin gesagt, dass der Damm robust sei.

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    Die Staatsanwaltschaft der Region Orenburg warnte die Bewohner vor unkoordinierten Aktionen. Zuvor hatten die Lokalen geplant, einen Appell an den Präsidenten aufzuschreiben. Die Rechtsinstanz betont, dass die Behörden eine Kundgebung im Zusammenhang mit dem Deichbruch nicht vereinbart haben, und droht den Aktivisten mit der Verantwortung für Aufrufe zu unerlaubten Aktionen – bis hin zur Verwaltungshaft.

    Eine Gruppe von etwa 100 Demonstranten habe sich vor dem Rathaus in Orsk versammelt, berichtete das kremlkritische Portal „Ostoroschno, Nowosti“. Sie riefen „Schande! Schande!“ und warfen den Behörden Versagen vor. So kritisierten sie, dass der Damm, für den nach offiziellen Angaben viel Geld ausgegeben wurde, dem Hochwasser nicht standgehalten hat. Der Bürgermeister und der Gouverneur der Region trafen sich schließlich zu Gesprächen mit einer Delegation der empörten Bürger. Nach dem Treffen versprach Gouverneur Denis Pasler den vom Hochwasser Geschädigten, man werde sie in Hotels und Kurheimen unterbringen anstatt in einer Sammelnotunterkunft.

    Die Probleme im Land häufen sich. Im Winter waren es die maroden Heizungen. Viel zu wenig wurde in den vergangenen Jahren in die Sanierung der maroden Infrastruktur investiert. Dann der Terroranschlag. In der Musikhalle gab es wohl Bau- und Sicherheitsmängel. Und nun vermutlich Behördenschlamperei beim Staudamm von Orsk. Noch vertraut die Mehrheit der Russen, dass ihr Präsident die Probleme im Land im Griff hat. Doch der Unmut wächst. Und Putin steht unter Druck.

    (mit Material von dpa und AFP)

    Russland-Reportagen von Jan Jessen