Jerusalem. Israels Bevölkerungswachstum überfordert das kleine Land. Der Klimawandel verschärft den Platzmangel – und befeuert einen alten Streit.

Wer in Israel lebt und zur Arbeit in eine andere Stadt pendelt, kennt das Problem: Züge sind morgens hoffnungslos überfüllt, auf den Straßen staut es sich – und es wird immer schlimmer. Wohnungen sind knapp und völlig überteuert, Familien leben auf engstem Raum: Überall fehlt es an Platz. Keine Industrienation wächst so schnell wie das kleine Israel. Und niemand rechnet damit, dass sich das bald ändern könnte.

Als der Staat vor 75 Jahren gegründet wurde, lebten hier gerade einmal 800.000 Menschen. Noch in diesem Jahr könnte die Bevölkerung die Zehn-Millionen-Marke überschreiten. Auf einer Fläche, die kaum größer ist als das Bundesland Hessen (6,2 Millionen Einwohner), verdoppelt sich die Bevölkerung alle 36 Jahre. In den kommenden fünf Jahren wird Israel laut Prognosen des Taub-Zentrums sogar Griechenland und Schweden überholen, was die Einwohnerstärke betrifft.

Demografie-Experten rätseln, wie man ausreichend Häuser, Bahngleise und Straßen bauen und die Versorgung mit Wasser und Energie aufrechterhalten kann, um diesem Wachstum standzuhalten. Zumal mehr als die Hälfte des israelischen Staatsgebiets aus Kahlland, also Wüste und dürrem Land, besteht – und sich dort, wo man wohnen kann, bereits jetzt Hochhaus an Hochhaus reiht.

In Israel bekommt jede Frau im Schnitt 2,9 Kinder

Anders als etwa Deutschland hat Israel sein Wachstum nicht der Migration zu verdanken. Während Deutschland und andere reiche Länder in den nächsten Jahrzehnten schrumpfen werden, wenn nicht genügend Menschen einwandern, werden in Israel so viele Babys geboren, dass das Land aus allen Nähten platzt. Im Schnitt gebärt jede israelische Frau 2,9 Kinder, unter den Ultraorthodoxen sind es sogar 6,6 Kinder.

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Da die Strengreligiösen mehr als doppelt so viele Kinder zur Welt bringen als der Durchschnitt, nimmt ihr Bevölkerungsanteil stetig zu. Er liegt jetzt bei 13 Prozent, unter den Israelis unter 18 Jahren gehört heute schon jeder Fünfte der ultraorthodoxen Minderheit an.

Das stellt Israel, das unter ständiger Terror- und Kriegsgefahr steht, auch vor die Frage, wie es seine Militärkraft aufrecht erhalten kann. Denn die meisten Strengreligiösen nehmen nicht am Wehrdienst teil, zu dem alle jungen jüdischen Männer und Frauen in Israel eigentlich verpflichtet wären. Ultraorthodoxe heiraten früh, Frauen bekommen ihr erstes Kind meist schon im Teenageralter – dadurch sind sie für den Wehrdienst nicht verfügbar.

Ultraorthodoxe Kinder gehen nicht auf reguläre Schulen

Strengreligiöse Männer wiederum haben sich vor dem Gesetz eine Ausnahme von der Wehrdienst ausverhandelt: Wenn sie beweisen können, dass sie ihre Tage mit dem Bibelstudium verbringen, dürfen auch sie dem Dienst an der Waffe fernbleiben und müssen keinen Ersatzdienst leisten. Längerfristig werden also immer weniger Israelis der Armee zur Verfügung stehen.

Die Kinder der Strengreligiösen besuchen meist private Schulen, die ihren Fokus auf Glaubenslehre setzen und keine staatlichen Lehrpläne beachten müssen. Mathematik und Englisch wird an diesen Schulen häufig erst gar nicht unterrichtet. Das schränkt ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein – und stellt Israel insgesamt vor die Frage, wie es mit den vielen späteren Arbeitslosen umgehen soll.

Ultraorthodoxe Juden kaufen in Jerusalem frischen Fisch: Sechs Kinder sind in den strengreligiösen Familien keine Seltenheit.
Ultraorthodoxe Juden kaufen in Jerusalem frischen Fisch: Sechs Kinder sind in den strengreligiösen Familien keine Seltenheit. © Getty Images | Alexi Rosenfeld

Es sind aber nicht die Ultraorthodoxen allein, die Israel so schnell wachsen lassen. Auch in Familien, die nicht religiös sind und in denen beide Elternteile Jobs nachgehen, sind vier Kinder keine Seltenheit. „Es gehört irgendwie dazu, viele Kinder zu haben“, sagt Rachel, 32-jährige Mutter von drei Kindern. „Von meinen gleichaltrigen Freundinnen ist keine einzige kinderlos.“ Nicht, dass es in Israel einfach wäre, eine passable Betreuung für die Kinder zu finden. „Wir geben ein Drittel unseres Einkommens für Kitas und Schulen aus“, sagt Rachel. „Natürlich ist das hart, aber wir schaffen es schon irgendwie.“

Klimawandel könnte viele Landesteile unbewohnbar machen

Zu den vielen Kindern kommt das Wachstum durch Migration. Im Vorjahr machten jüdische Einwanderer aus Russland und der Ukraine den Großteil der Einwanderung aus. Über 60.000 Menschen kamen so ins Land. Die Warnungen von Demografie-Experten, dass das starke Wachstum Probleme schafft, die von der Politik gelöst werden müssen, verhallen oft ungehört. In Israel ist das Topthema, wenn es um Bevölkerungswachstum geht, wie sich der Anteil der rund 20 Prozent israelischen Araber verändern wird.

Ein israelischer Soldat nimmt an einem Armeeeinsatz in der Nähe der Siedlung Elon Moreh im besetzten Westjordanland nahe Nablus teil.
Ein israelischer Soldat nimmt an einem Armeeeinsatz in der Nähe der Siedlung Elon Moreh im besetzten Westjordanland nahe Nablus teil. © dpa | Ayman Nobani

Der Klimawandel, der die bewohnbare Fläche in Israel weiter reduzieren wird, macht aber weder vor Juden noch vor Arabern Halt: Große Ballungszentren wie der Großraum Tel Aviv oder Haifa sind an die Mittelmeerküste gebaut. Wenn der Meeresspiegel steigt, werden viele dieser Gebiete nicht mehr bewohnbar sein.

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Auch das auf den Hügel gebaute Jerusalem ist nicht sicher: Die Stadt ist von großen Waldflächen umgeben, die sich in Zeiten von Hitzewellen immer wieder entzünden. Das Risiko, dass Waldbrände außer Kontrolle geraten und nahe an Jerusalem heranrücken, wird seit Jahren von Forschern zum Thema gemacht – die Politik reagiert jedoch kaum darauf. Es fehlt an Risikoplänen und Ausrüstung für den Ernstfall.

Rechtsgesinnte Israelis sehen den Ausweg in einem vermehrten Siedlungsbau im von Israel besetzten Westjordanland. Dort geraten sie aber in Konflikt mit internationalem Recht, das der israelischen Regierung verbietet, die eigene Bevölkerung im Besatzungsland anzusiedeln.

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Ein Gutes hat Israels Wachstum: Von Überalterung und Fachkräftemangel ist hier weniger zu merken als in Europa. Gut möglich, dass sich deutsche Unternehmen bald in Israel umsehen werden, wenn sie für ihre Jobs keine Bewerber finden.