Brüssel. Die Unterschiede sind groß, werden im Wahlkampf aber kaum debattiert. Ein Überblick zu den Positionen von Union, SPD, Grünen, FDP, Linken und AfD.

Vor der Europawahl lieben es viele Wahlkämpfer dramatisch: Von einer Richtungs- oder Schicksalswahl für die EU ist immer öfter die Rede. Aber was verbirgt sich hinter den großen Ansagen? Um welche Richtung geht es? Die Debatten behandeln jetzt Einzelfragen – Klimawandel, Migration, Brexit –, selten die große Linie. Höchste Zeit für eine Klärung jenseits des Programm-Klein-Kleins:

Ausbau von Europol zum europäischen FBI

Für die Unionsparteien soll die EU nicht größer oder mächtiger werden, aber an bestimmten Stellen effizienter. Frühere Forderungen nach einer „politischen Union“ sind aus dem Wahlprogramm gestrichen, klar heißt es nun: „Die EU-Mitgliedstaaten entscheiden auch in Zukunft, was Europa macht und welche Aufgaben national geregelt bleiben.“ Die Forderungen nach tief greifenden Veränderungen sind überschaubar: Stärkung des EU-Parlaments, das wie andere Parlamente auch das Recht zu eigenen Gesetzesvorschlägen haben soll, gemeinsame europäische Streitkräfte bis 2030 (eher Zusammenarbeit als Fusion), Ausbau der Polizeibehörde Europol zum europäischen FBI. Fast mehr Raum nehmen die Stoppzeichen ein: keine Vergemeinschaftung von Schulden, keine Verlagerung von Bildungs- oder Sozialpolitik in die EU. Ein Stoppzeichen auch bei der Erweiterung: Die Aufnahme weiterer Länder auch des Westbalkans sei „in den nächsten fünf Jahren nicht möglich“. Und eine Vollmitgliedschaft der Türkei lehnt die Union ab.

Eurozone soll eigene Wirtschaftsregierung bekommen

Die Sozialdemokraten wollen mehr Europa, sie wollen „die politische und soziale Integration weiter vorantreiben“. Aber eher in überschaubaren Schritten als mit dem großen Wurf. Die Eurozone soll Vorreiter sein und „Tempo machen“ bei der weiteren Integration: Sie soll eine eigene Wirtschaftsregierung bekommen, mit einem Finanzminister und einem Eurozonenhaushalt. Ausdrücklich bekennt sich die SPD zu höheren Beitragszahlungen Deutschlands. An anderen Stellen setzt sie auf mehr Zusammenarbeit einzelner Staaten, die bei der Integration vorangehen wollen, bei der Verteidigung auf eine europäische Armee. Frühere Pläne, die EU-Kommission zu einer „wahren EU-Regierung“ auszubauen, sind passé. Aber das Parlament soll nicht nur Gesetzesinitiativen starten können, sondern per Zweistimmenwahlrecht gewählt werden – eine Stimme für europaweite Wahllisten mit Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Die Westbalkanländer behalten vage eine Beitrittsperspektive, zur Türkei heißt es nur, weder sie noch die EU „sind in absehbarer Zeit für einen Beitritt bereit“.

Vereinigte Staaten von Europa, die Europäische Republik oder ein föderativer Bundesstaat?

Die Grünen schwanken bei Europa zwischen großen Visionen und Pragmatismus: Vereinigte Staaten von Europa, die Europäische Republik, ein föderativer Bundesstaat – über diese drei Modelle wollen sie eine „breite Diskussion führen und diese in die Gesellschaft tragen“, ohne sich selbst festzulegen. Denn es gilt zugleich: Die EU soll „kein zentralistischer Superstaat“ sein. Die Grünen wollen deshalb auch die Rolle der Regionen stärken. Das Parlament soll schon vorher deutlich gestärkt werden, unter anderem mit dem Recht zu Gesetzesinitiativen, die Abgeordneten sollen auch über europaweite Listen gewählt werden. Der Rat der Mitgliedstaaten würde mittelfristig zu einer zweiten Kammer. Für die Eurozone wollen die Grünen einen eigenen Haushalt für Investitionen, der aus einer europäischen Unternehmenssteuer finanziert würde. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollen nur unter strengen Bedingungen weitergehen, für den Westbalkan bleibt es bei der Beitrittsperspektive.

Keine europaweiten Mindeststeuersätze und Digitalsteuern

Der europäische Einigungsprozess muss fortgesetzt werden, erklärt die FDP und hat dabei ein klares Ziel: „das demokratische und bundesstaatliche Europa“. Die Liberalen verstehen den Bundesstaat als Gegenmodell zum Rückfall in nationale Kleinstaaterei und zum zen­tralisierten europäischen Superstaat. Am Beginn der Großreform stünde ein Konvent, am Ende Volksabstimmungen. Für die Zwischenzeit schwebt der FDP eine Stärkung des Parlaments, ein einheitliches Wahlrecht mit europaweiten Listen und die verstärkte Zusammenarbeit bereitwilliger Mitgliedstaaten etwa in der Außen- und Verteidigungspolitik vor. Dazu gehört später auch eine europäische Armee. Die EU-Kommission soll von 28 auf höchstens 18 Kommissare verkleinert werden. Anderswo tritt die FDP auf die Bremse: keine europaweiten Mindeststeuersätze und Digitalsteuern, von den sozialen Sicherungssystemen soll Brüssel die Finger lassen. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei will die FDP beenden, für die Westbalkanländer bleibt die Tür dagegen offen.

„Neoliberale EU“ durch ein „Europa der Solidarität“ ablösen

Die Linke will einen „Neustart der EU“ und die Union dazu grundlegend reformieren. Um die „neoliberale EU“ durch ein „Europa der Solidarität“ abzulösen, setzt die Linke vor allem auf eine gänzlich neue Verfassungsgrundlage. Welche Strukturen man sich genau vorstellt, bleibt aber vage. Den „Neustart“ soll ein Konvent vorbereiten, die Bürger aller EU-Staaten würden am Ende darüber abstimmen. Die wenigen konkreten Vorschläge für Strukturreformen zielen vor allem auf das EU-Parlament, daneben auf eine Fortentwicklung der Europäischen Bürgerinitiative zu einer Bürgergesetzgebung. Das Parlament soll gegenüber Kommission und EU-Rat gestärkt werden, unter anderem mit dem Recht zu eigenen Gesetzesinitiativen. Der Einfluss des Rates und damit der Mitgliedstaaten soll zurückgedrängt werden. Auch die Europäische Zentralbank will die Linke unter die Kon­trolle des Parlaments stellen.

Ein „Europa der Vaterländer“

Weniger Europa, ein Rückbau der EU und notfalls ein Austritt Deutschlands – das ist das Konzept der AfD. Sie will ein „Europa der Vaterländer“ als Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten. Schwerpunkt: der Binnenmarkt.

Dazu soll die EU zu einer Organisation umgebaut werden, wie sie anderen zwischenstaatlichen Zusammenschlüssen entspricht.

Das Europaparlament würde dann abgeschafft werden, weil die EU keine Gesetzgebungskompetenz mehr hätte. Wenn die geforderten Reformen nicht in angemessener Zeit verwirklicht werden, will die AfD den Austritt Deutschlands aus der EU erreichen. Konsequenterweise will die AfD kurzfristig den EU-Haushalt verkleinern. Gefordert wird aber auch die Wiedereinführung der Deutschen Mark – gegebenenfalls soll der Euro parallel beibehalten werden, aber ohne „Transferunion“.

Einen EU-Beitritt der Türkei lehnt die AfD strikt ab.