Erfurt. Über den eigenen Tod hinaus hat er Pläne gemacht: Jetzt steht der Termin fest, an dem an den Chef des Speichers und der Erfurter Sommerkomödie erinnert werden soll.

Spätestens wenn die Tage wieder wärmer werden, wird sein Fehlen auffallen. Zu gern hat sich Volker Nienstedt vorm Café Hilge am Domplatz in die Sonne gesetzt. Ist hierher geradelt, hat geplauscht und genetzwerkt, geraucht natürlich und Kaffee getrunken. Alle Büro-Notwendigkeiten in einem Weidenkorb, den Kopf voller Ideen. Am 1. Februar ist der Chef des Speichers, Grünen-Stadtrat, Geschäftsführer der Sommerkomödie und kreativer Kultur-Ermöglicher im Alter von 68 Jahren verstorben. Jetzt steht auch der Termin fest, wann seiner gedacht werden soll.

Spenden für Hospiz und Schotte

Ein Benefizkonzert hat sich Volker Nienstedt gewünscht und geplant. Keine sentimentale Trauerfeier. Zur einen Hälfte soll dessen Erlös der Schotte, zur anderen dem Hospiz zugutekommen. Jeder kann kommen und spenden am Sonntag, 17. März, Beginn ist 16 Uhr, Einlass eine Stunde früher. Es spielen „par-ci, par-là“ in der Schotte – und Menschen aus dem Umfeld von Volker Nienstedt ahnen, dass der Platz für alle Gäste der Feier niemals reichen wird. Aber Wunsch ist nun mal Wunsch.

„Speicher“ fällt an Eigentümer zurück

Einer seiner letzten Wünsche, noch einmal im Sonnenuntergang in seinem Lieblingscafé in der Abendsonne zu sitzen, hat sich erfüllt. Als er längst im Hospiz aufgenommen und auf den Rollstuhl angewiesen ist, zu schwach zum Laufen, kommt er mit seiner Freundin noch einmal her. „Dieser scheiß Krebs“, flucht er an seinen letzten Tagen, seinen 70. Geburtstag hatte er doch im „Speicher“ feiern wollen, ehe die urige Altstadtkneipe mit seinem Todestag - so ist es verabredet - an den Eigentümer zurückfällt. „Klappt wohl nicht“, sagt er. Die Krankheit ist schneller, der Krebs streut, zerrt an der Lebenskraft. Nicht so sehr allerdings, dass sich nicht noch vieles regeln lassen würde – bis über den eigenen Tod hinaus.

Seinen Nachruf beispielsweise. Um es dem Schreiber dieser Zeilen „einfach zu machen“, wie er sagt, lädt Volker Nienstedt im Januar zu einem Besuch ins Hospiz ein. Im Zimmer, wo er sich Kunst an die Wand gehängt und seinen Computer aufgestellt hat, ist er tagsüber selten und nur zum Aufwärmen zwischen den Zigaretten. Auf der Balkonterrasse des Hospizes steht der Aschenbecher. Warum jetzt noch aufhören mit dem Rauchen, wo sie ihm nur Wochen geben.

„Ich bin nicht immer nett gewesen“

„Das Hospiz ist eine ziemlich coole Angelegenheit“, sagt er. Nur die blaue Decke, die ihn dick eingepackt vor Winterkälte schützt, will er partout nicht gegen die brandsichere Variante tauschen. „Vorschrift, was heißt hier Vorschrift?“, empört er sich. Er habe „nur“ Krebs, sei nicht dement und könne noch gut selbst dafür sorgen, nicht in Flammen aufzugehen, fährt er freundlich aber bestimmt eine der Schwestern im Hospiz an, die ihn zum Deckenwechsel mahnt. Minuten später bereut er seine Worte bereits: „Diese verdammte Eitelkeit, immer recht haben zu müssen“, murmelt er, verärgert über sein störrisch-sprödes Verhalten, das zeitlebens zu ihm gehört wie die Schachtel Chesterfields: „Ich bin nicht immer nett gewesen“, sagt er.

„Sommerkomödie“ in gute Hände übergeben

Coco Ruch war in den letzten Stunden bei ihm. Gewartet habe Volker mit seinem letzten Atemzug, bis die Gesellschafterversammlung der Sommerkomödie (Soko) mit Fabian Hagedorn am letzten Januartag einen neuen Geschäftsführer bestätigte, sagt sie. Sein „Baby“ solle in guten Händen sein, die nächsten Produktionen sicher und das Fortbestehen der Soko bis vorerst 2026 geregelt.

Die zwei Porträtfotos von ihm, die zum Benefizkonzert aufgestellt werden sollen, hat er selbst ausgewählt. Ebenso die befreundeten Redner, die ein paar Worte des Erinnerns sprechen werden, ehe – nach einer obligatorischen Raucherpause – die Band spielen wird, für eine Stunde vielleicht. Menschen sollen sich begegnen, so wie es Volker Nienstedt zu Lebzeiten eine Herzenssache war.

In Erfurt mit der „Süßen Ecke“ gestartet

2010 war er nach Erfurt gekommen. Zuvor hatte er in der Suchthilfe gearbeitet, als Gründer einer Taxigenossenschaft, dann als IT-Spezialist für Microsoft. Geboren als Sohn eines Opernsängers und -intendanten 1955 in Gelsenkirchen, waren Hannover, Wiesbaden, Köln, Berlin und zuletzt Hamburg Stationen seines umtriebigen Lebens. Vom Computer gelangweilt, startet er sein erstes, temporäres Projekt in Erfurt: „Die süße Ecke“ eröffnet ihm für einen Sommer lang eine neue Welt, wie er selbst sagt, und hat sein Leben radikal verändert. „Ein schöner Zufall für mich und für Erfurt“, erinnert er sich.

Schnell Teil der Kulturszene geworden

Weder Intendant noch Gastronom sei er auch nur ansatzweise vor Erfurt gewesen. Nun bietet er den Erfurtern einen neuen Ort für Kunst und Kultur, wird schnell aktiver Teil der Erfurter Kulturszene, aus Gästen werden Freunde. Er formt aus dem leerstehenden Speicher eine beliebte Altstadtkneipe, erfindet die „Sommerkomödie“ (Soko) neu und rettet sie vor der Abwicklung. Als Intendant der Soko gibt er in der Barfüßerruine per Mikrofon den Platzanweiser und freut sich am Erfolg der Sommerabende dort.

In Corona-Zeiten macht er aus dem Freilufttheater einen Garten mit reichlich Grünpflanzen, dazwischen lässt er Kultur sprießen und gibt Künstlern in schwierigen Zeiten eine bezahlte Auftrittsmöglichkeit im „Pandemistischen Gartentheater“. Nicht abschrecken lassen, einfach mal machen, das war Volker Nienstedts lebenslanges Credo.

Konzerte fürs Hospiz organisiert

Dieser Tage wird Volker Nienstedt, der drei Kinder von drei Frauen hat, anonym in Hannover bestattet. „Auf dem Friedhof meiner Eltern wird meine Asche auf einer Blumenwiese verstreut“, kündigte er Mitte Januar an. Die Art über den Tod zu sprechen, sich offensiv damit zu beschäftigen, mache es ihm einfacher zu gehen, hoffentlich auch den Menschen in seinem Umfeld, sagt er im Hospiz, für das er in seinen letzten Tagen noch Konzerte organisierte.

Rückblickend gebe es nichts zu bereuen, sagt er. Allenfalls, dass er mit seinen kritischen Urteilen manchmal zu schnell gewesen sei. Wie die Menschen ihn in Erinnerung behalten mögen? Das sollen sie selbst entscheiden, jeder für sich, jeder auf seine Weise, gewiss jeder ganz anders. Und das Leben, so kurz vor dem Ende? „Es war gut so, wie es war“, sagt er, müde von den Schmerzmitteln, während eine angefangene Zigarette im Ascher verglimmt.