Die Andacht zum Wochenende für den Landkreis Sömmerda heute von Pfarrer Andreas Simon

„Der Herr wird seinem Volk Kraft geben.“ (Ps 29,11)

Heute ist sein 89. Geburtstag. Er sitzt wieder mal auf seiner Bank. Das macht er immer um diese Zeit. Hier kommt er zur Ruhe. Und er trägt immer seine schickste Jacke und die Schuhe sind geputzt. Er genießt die Ruhe am Morgen. An diesem Tag fährt kein Lastwagen. Ein paar Leute, die Brötchen holen gehen, sind unterwegs. Die begrüßt er freundlich.

Heute ist sein 89. Geburtstag. Und er sitzt auf seiner Bank. Eigentlich hätte auch er heute Morgen Brötchen geholt, er hätte viele Gäste erwartet. Aber das geht nicht. Die Verwandten wohnen an weit entfernten Orten. Die Kinder wollen bei Gelegenheit mal einzeln zu Besuch kommen. Aber sie sind auch nicht mehr die Jüngsten, da sollte man vorsichtig sein.

Ein bisschen macht ihn das traurig, denn immerhin wird er 89 Jahre alt. Auf der anderen Seite ist es auch schön, dass er jetzt gerade hier sitzen kann, so wie er es immer tut.

Heute ist sein 89. Geburtstag. Er sitzt auf seiner Bank. Und er denkt über die letzten 89 Jahre nach. Es fällt ihm ein, dass die Leute, die da Brötchen holen gehen, von diesen seinen 89 Jahren nichts wissen. Die denken wahrscheinlich, dass er einfach zu viel Zeit hat, wenn er immer auf dieser Bank herumsitzt. Die Leute wissen nichts davon, wie schwer sein Start ins Leben war. Den Vater hatte er nie kennengelernt. Den Ort seiner Geburt erinnert er nur schemenhaft. Er kann sich an die weiten Felder erinnern und an das Pferdefuhrwerk. Den Ort selbst hat er aber später nie mehr wieder gesehen.

Heute ist sein 89. Geburtstag. Und er sitzt auf seiner Bank. Und die Brötchenholer, die wissen nichts. Die wissen nichts davon, dass man ihn als jungen Mann wie einen Bettler behandelte und als billige Arbeitskraft missbrauchte. Die wissen auch nicht, dass seine Frau ihr Leben lang krank war. Die wissen nicht, was er sich mit ihr im Leben schuf, das Haus, drei Kinder wurden ihnen geschenkt, fünfundvierzig harte Arbeitsjahre in der Landwirtschaft. Die wissen nichts von den Sorgen, die sie mit ihrem großen Sohn hatten.

Die wissen nichts davon, wie es ist, einem Menschen immer zur Seite zu stehen und ihn selbst unter widrigsten Umständen zu lieben. Die wissen auch nichts davon, dass seine Frau den Kampf gegen die Krankheit am Ende verloren hat und dass er jetzt schon so lange allein ist. Die wissen nur, dass er immer auf dieser Bank sitzt.

Heute ist sein 89. Geburtstag. Und er sitzt wieder da. Warum er da sitzt, das wissen die meisten Leute auch nicht. Aber er weiß es genau. Er blickt auf die Uhr. Es ist gleich fünf vor um zehn. Und es beginnt zu läuten. Die Glocken der Kirche sind ihm vertraut. Er lauscht ihrem Klang, schon 73 Jahre lang. Es ist, als würden sie ihm zurufen: „Es ist schön dich zu sehen! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“

Und dann steht er auf. Er freut sich auf den Gottesdienst. Gott weiß, was 89 Jahre bedeuten. Er hat alle seine Gebete gehört, und er hat ihm Kraft gegeben.

Heute ist sein 89. Geburtstag.