Luxemburg. Um sicherzustellen, dass Arbeitszeiten eingehalten werden, müssen Firmen diese künftig systematisch erfassen. Was heißt das ganz genau?

Dieses Urteil könnte den Arbeitsalltag in Deutschland für Millionen Menschen spürbar verändern: Arbeitgeber müssen in naher Zukunft die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch und lückenlos erfassen, nicht nur die Überstunden.

Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag entschieden. In Deutschland haben viele Branchen Nachholbedarf. Die Gewerkschaften jubeln, die Arbeitgeber sind entsetzt und warnen vor einer Rückkehr zur Stechuhr. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bringt aber schon einen Bürokratie-Abbau bei der Aufzeichnungspflicht ins Gespräch.

Was bedeutet das Urteil genau und welche Auswirkungen hat es im Detail? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Was genau steht in dem Urteil?

Alle EU-Staaten müssen per Gesetz die Arbeitgeber zu Systemen der Arbeitszeiterfassung verpflichten – diese Systeme müssen „objektiv, verlässlich und zugänglich sein“ und die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit messen.

Das bedeutet, dass zum Beispiel auch Außendienst-Mitarbeiter oder Beschäftigte im Home-Office unter die Auflagen fallen. Die EU-Staaten haben aber Spielraum: Wie sie die Verpflichtung genau regeln , ob und welche Ausnahmen es etwa für einzelne Tätigkeiten oder für bestimmte Unternehmen oder Kleinstbetriebe gibt, hat das Gericht den Staaten überlassen.

Im deutschen Arbeitszeitgesetz ist nach Gewerkschaftsangaben bisher nur vorgeschrieben, dass Überstunden nach den üblichen acht Stunden Regelarbeitszeit registriert werden. Gewerkschafter monieren schon lange, dass dies eigentlich nur möglich sei, wenn auch die reguläre Arbeitszeit aufgezeichnet wird.

Wie ist es bisher geregelt?

Das deutsche Arbeitszeitgesetz legt fest, dass Überstunden nach der Regelarbeitszeit von acht Stunden registriert und dokumentiert werden müssen, leitende Angestellte sind ausgenommen. Das normale Kommen und Gehen im Betrieb oder bei Außeneinsätzen muss dagegen nicht zwingend erfasst werden.

Ausnahmen sind Branchen wie das Bau-, Gaststätten- oder Transportgewerbe, Gebäudereinigung oder Fleischwirtschaft, für die im Zuge des Mindestlohngesetzes bereits umfassende Dokumentationspflichten für die tägliche Arbeitszeit bis zu bestimmten Gehaltsgrenzen gelten.

Auch für sämtliche Minijobber außerhalb von Privathaushalten ist das vorgeschrieben und für den Straßen- und Schiffsverkehr. Vor allem Industriebetriebe erfassen die Arbeitszeit seit jeher auch ohne gesetzliche Vorschrift minutiös. Für alle Beschäftigten in Deutschland gilt, dass sie im Durchschnitt höchstens 48 Stunden in der Woche arbeiten dürfen. Und innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums müssen mindestens elf zusammenhängende Stunden als Ruhezeit gewährt werden, innerhalb von 7 Tagen zusätzlich 24 Stunden.

Kommt die Stechuhr wieder?

Nein. Wo es nicht noch aus früheren Zeiten eine Stechuhr gibt, kann man heute einfach mit dem Smartphone, der App oder mit dem Computer am Arbeitsplatz die Arbeitszeit dokumentieren. Auch die Papierform ist möglich. Dennoch ist die Auflage ein Einschnitt: Die vor allem bei Angestellten verbreitete Vertrauensarbeitszeit, in der für die Beschäftigten Zielvorgaben und nicht zeitliche Präsenz im Vordergrund stehen, sei mit dem Urteil „praktisch tot“, warnt der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Übrigens kann der Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht auch an seine Beschäftigten delegieren.

Müssen wir jetzt weniger oder mehr arbeiten?

Das hängt vom Einzelfall ab. Allerdings: Wo Überstunden nur ungenau erfasst werden, wird es bei der aktuellen Beschäftigungslage wohl eher darum gehen, diese Mehrarbeit zu bezahlen. Laut einer Erhebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sparen sich deutsche Arbeitgeber durch rund 1 Milliarde unbezahlte Überstunden etwa 18 Milliarden Euro jährlich.

Wie begründen die Richter ihr Urteil?

Nur wenn die Arbeitszeiten erfasst werden, kann der Anspruch der Arbeitnehmer auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten und eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit eingelöst werden, so die Luxemburger Richter. Es handele sich um ein Grundrecht, das in der EU-Charta verbürgt und in der EU-Arbeitszeitrichtlinie präzisiert sei.

Die Arbeitnehmer seien die schwächere Partei des Arbeitsvertrags, deshalb müsse verhindert werden, dass der Arbeitgeber die Rechte beschränke. „Ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, kann weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden“. Dann werde es für die Arbeitnehmer „äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen.“

Ab wann gilt es – ist das sofort, unverzüglich?

Nein. Nach dem Urteil muss jeder EU-Staat für sich ein Gesetz erlassen. In Deutschland will das Bundesarbeitsministerium das Urteil jetzt erst gründlich prüfen; Minister Heil wird voraussichtlich einen Entwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes vorlegen, den der Bundestag beschließen muss.

Heil betonte, nach dem Urteil seien die – umstrittenen - Aufzeichnungspflichten etwa in der Mindestlohn-Branche nicht verhandelbar. Man müsse aber zu einem echten Bürokratie-Abbau kommen – mit entsprechenden Vorschlägen wolle er die Wirtschaft um 1,3 Milliarden Euro entlasten, sagte Heil.

In den Beratungen wird es viel Streit um Details und Ausnahmen geben. Eine Verpflichtung wird frühestens im Lauf des Jahres 2020 greifen, eher später. Oder gar nicht?

Arbeitsrechtsexperten plädierten umgehend dafür, die zugrundeliegende EU-Arbeitszeitrichtlinie zu überprüfen, um die Vertrauensarbeitszeit zu retten. Der Branchenverband Bitkom forderte als Konsequenz aus dem Urteil, das Arbeitsrecht „ins digitale Zeitalter zu überführen“. Die Koalition plant ohnehin, den Tarifpartnern in „Experimentierräumen“ die Möglichkeit einzuräumen, Arbeitszeiten flexibler zu gestalten.

Warum waren die Richter überhaupt gefragt?

In dem Fall hatte eine Gewerkschaft in Spanien gegen den spanische Ableger der Deutschen Bank geklagt. Ähnlich wie in Deutschland galt in Spanien nur eine Aufzeichnungspflicht für Überstunden. Für Spanien kommt das Urteil indes zu spät. Die Regierung hat eine Gesetzesverordnung zur umfassenden Arbeitszeiterfassung beschlossen, die am Sonntag in Kraft trat – und für Chaos sorgt.

Wie sind die Reaktionen?

Der Deutsche Gewerkschaftsbund erklärte, das Urteil schiebe „Flatrate-Arbeit“ einen Riegel vor. Die unbezahlten Überstunden seien in Deutschland inakzeptabel hoch, was für die Arbeitnehmer nicht nur „Lohn- und Zeitdiebstahl“ bedeute, sondern auch ernste gesundheitliche Folgen haben könne. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund forderte, Kliniken dürften Höchstarbeitszeitgrenzen nicht länger missachten.

Die Arbeitgeber reagierten dagegen entsetzt. In einer ungewöhnlich knappen Erklärung monierte der Arbeitgeberverband BDA, die Gerichtsentscheidung „wirkt wie aus der Zeit gefallen.“ Die Arbeitgeber seien gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr. „Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.“ Die Entscheidung dürfe keine Nachteile für solche Arbeitnehmer mit sich bringen, die schon heute flexibel arbeiteten.