Thomas Beilner über das Phänomen des Gamma-Squeeze

Sicherlich haben Sie meinen Artikel vom 5. Februar 2021 zu den Geschehnissen rund um die Gamestop-Aktie an dieser Stelle gelesen. Nun steigt der Kurs dieser Aktie wieder um mehr als 100 Prozent an und dies wird mit dem Phänomen des Gamma-Squeeze erklärt. Sehr viel erinnert dabei an das „Stuttgarter Roulette“. Was geschah damals? Im Jahr 2005 beschließen die Vorstände von Porsche sich am ungleich größeren Autokonzern Volkswagen (VW) zu beteiligen. Aber 20 Prozent der VW Stammaktien reichen nicht aus. Deshalb wird im Jahr 2008 beschlossen, den Anteil an VW auf über 50 Prozent aufzustocken.

Bereits vor der Abgabe des Pflichtübernahmeangebotes hat Porsche Kaufoptionen (Calls) auf VW mit einem Marktwert von rund fünf Milliarden Euro erworben. Eine Kaufoption räumt dem Käufer das Recht ein, die der Option zugrundeliegende Aktie zu einem Basispreis innerhalb einer bestimmten Frist zu erwerben. Der Verkäufer der Call hat die Pflicht, die zugrundeliegende Aktie zu liefern.

Nun müssen sich Banken, die diese VW-Calls an Porsche verkauft haben, ihrerseits absichern und kaufen VW-Aktien. Durch die Nachfrage steigt der VW-Aktienkurs. Porsche hat dies einkalkuliert und Verkaufsoptionen auf VW verkauft und die Stillhalterprämie vereinnahmt. Die Übernahmespekulation und die Absicherungsgeschäfte der Banken veranlassen Hedgefonds, die als überteuert geltenden VW-Stammaktien über Leerverkäufe zu verkaufen (sie rechnen mit einem Kursrückgang und dem günstigeren Kauf der Aktien) bei einem gleichzeitigen Kauf der VW-Vorzugsaktien, die den Preisanstieg der Stammaktien nicht in dem Ausmaß vollzogen haben. Es entsteht eine explosive Situation eines ausgetrockneten Marktes an frei umlaufenden VW-Stammaktien, massiven Optionspositionen und spekulativen Strategien.

An dieser Stelle betritt Gamma-Squeeze die Bühne. Um das Risiko von Optionsstrategien einzuschätzen, existieren eine Reihe von Risikoparametern, die jeweils mit einem griechischen Buchstaben abgekürzt werden. So zeigt das Delta die Sensitivität des Optionspreises bezüglich des Aktienkurses und das Gamma die Sensitivität des Deltas zum Aktienkurs. Dabei gewährt die Delta-Neutralität eine Absicherung gegen relativ kleine und die Gammaneutralität gegen größere Änderungen im Aktienpreis. Ist das Gamma klein, ändert sich das Delta langsam, es müssen relativ wenige Anpassungen vorgenommen werden und umgekehrt.

Am Aktienmarkt explodiert die VW-Aktie von 200 bis auf über 1.000 Euro am 28. Oktober 2008, um dann wieder von 400 auf unter 200 Euro zu fallen. Die Kurskapriolen beschäftigen im Nachgang die Gerichte. Die Rechnung geht für Porsche nicht auf und das Unternehmen benötigt frisches Geld. Ende 2012 übernimmt VW das operative Geschäft von Porsche durch eine Kapitalerhöhung (getragen von den Eigentümerfamilien) komplett.

Eine ähnliche Situation mit spekulativen Optionsgeschäften und Gamma-Squeeze scheint jetzt bei Gamestop vorzuliegen, wobei keine Übernahmeabsichten, sondern rein spekulative Aktienpreissteigerungen eine Rolle spielen. Steigen die Aktienkurse explosionsartig an und sind Optionsstrategien einbezogen, zwingen Delta- und Gamma-Kennziffern die Investoren dazu, aktiv in die Geschehnisse einzugreifen, um ihre Risikopositionen anzupassen, und verstärken Kursanstiege beziehungsweise -rückgänge.

Wie schon am 5. Februar 2021 an dieser Stelle formuliert wurde: „Private entdecken die Aktie – aber bitte nicht so!“.

(Thomas Beilner ist Honorarprofessor für Finanzmarkttheorie an der Universität Erfurt. Er studierte Volks- und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt am Main und promovierte an der Universität Bayreuth.)