Kiew. Die Stimmung in der Hauptstadt Kiew ist gedrückt, das Jahr endet ohne Perspektive für ein Kriegsende. Aber mit einem Signal an Moskau.

Vor einem Jahr erlebte Kiew eine ungewöhnliche Neujahrsnacht. Nicht nur war es das erste Silvester im Krieg, was bedeutete, dass neben den regulären Stromabschaltungen die fehlende Straßenbeleuchtung auf die Feierstimmung schlug. Pünktlich kurz nach Mitternacht wurde die ukrainische Hauptstadt auch noch von Russland mit Raketen und Drohnen beschossen. Es knallte gewaltig. Viele Kiewer tranken ihren Sekt – zum Schutz vor berstendem Fensterscheiben im Falle eines Treffers – letztlich im Wohnungsflur oder Luftschutzkeller. Nun naht das zweite Fest im Schatten des Krieges.

In den vergangenen Wochen haben die russischen Luftangriffe auf Kiew deutlich zugenommen. Auf den heftigsten Drohnen-Bbeschuss seit Kriegsbeginn folgten mehrere Angriffe mit ballistischen Raketen – üblicherweise in der Nacht, aber auch bei Tageslicht. Zu bedeutenden Stromabschaltungen kam es bislang dennoch nicht. Die Defizite, die jetzt bei Minustemperaturen entstehen, können durch Importe aus der EU ausgeglichen werden. Entsprechend weihnachtlich sieht es in der Stadt aus. Geschäfte und Restaurants sind festlich dekoriert, überall laufen Weihnachtsplaylists im Hintergrund, unterbrochen nur durch patriotische Lieder. Selbst die traditionellen Firmenfeiern werden wieder öfter ausgerichtet.

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Doch der oberflächliche Eindruck täuscht. Zwar ist es keine Untergangsstimmung, die in Kiew am Ende eines eher enttäuschend gelaufenen militärischen Jahres herrscht, aber die Umstände waren 2022 nach den Befreiungen im Bezirk Charkiw und in Cherson leichter zu ertragen. Solche Erfolge gibt es diese Weihnachten nicht – auch ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. „Mit dem Verzicht aufs Feiern wird niemanden geholfen, auch den Soldaten nicht. Das bringt uns den Sieg nicht näher“, sagt Andrij, der Ende 30 ist. „Die Firmenfeiern bringen den Gastwirten zumindest das notwendige Geld ein und die Steuereinnahmen fließen dann ins Militär. Aber gerade jetzt habe ich ein richtig komisches Gefühl, wenn ich all die Weihnachtsbäume und Dekorationen sehe.“

Weihnachten im Krieg: Debatte um Ausgaben spaltet Ukraine

Zur Stimmung passt, dass der große Weihnachtsbaum auf dem Kiewer Sophienplatz in diesem Jahr noch kleiner ausgefallen ist als 2022. Diskussionen um die Notwendigkeit eines offiziellen Weihnachtsbaums sind nur die Spitze des Eisbergs. Alle Ausgaben stehen auf dem Prüfstand. Sowohl in der Hauptstadt als auch woanders im Land gab es zuletzt Demonstrationen, auf denen gefordert wurde, selbst die Ausgaben für Straßenreperaturen an die Armee umzuleiten. Doch die große Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer will, dass zumindest die Kinder ein bisschen Festgefühl erleben, zumal Weihnachtsmärkte erneut nicht öffnen durften. Sie argumentieren, dass der Baum ohnehin nicht über Steuergelder, sondern von Spenden der Mäzen bezahlt wurde.

Einen etwas anderen Weihnachtsbaum aus Resten von Granaten haben zwei Frauen vor einem Kiewer Café aufgestellt.
Einen etwas anderen Weihnachtsbaum aus Resten von Granaten haben zwei Frauen vor einem Kiewer Café aufgestellt. © AFP | SERGEI SUPINSKY

In der Ukraine ist Weinachten nach wie vor – abgesehen von einigen katholisch geprägten westlichen Gebieten – weniger wichtig als Neujahr, das üblicherweise ein großes Volksfest ist. Doch in diesem Jahr gibt es zumindest politisch eine Veränderung, denn der 7. Januar wurde als gesetzlicher Feiertag erstmals gestrichen. Zuvor waren im überwiegend orthodoxen Land sowohl der 25. Dezember als auch der 7. Januar gesetztliche Feiertage gewesen, doch nach dem russischen Überfall sprach sich die Mehrheit der Ukrainer in Umfragen dafür aus, das Fest vollständig auf den 25. Dezember zu verlegen, nach westlichem Vorbild.

Die Entscheidung spiegelt den historischen Bruch der Ukraine mit Russland und auch explizit mit der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, die den Krieg offen befürwortet. Gerade in den größeren Städten der Ukraine war bereits seit einigen Jahren das Unverständnis darüber gewachsen, warum das Land Weihnachten nicht zeitgleich mit dem Großteil der westlichen Welt feiert. „Ich habe mich immer gefragt, ob das wirklich so sein soll“, betont Linguistik-Studtentin Oleksandra. „Jetzt freue ich mich sehr, dass diese Frage für die Zukunft geklärt wurde – und zwar vor allem aus praktischen Gründen.“

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Kiew: Die wenigsten Menschen planen etwas für die Festtage

In der offiziellen Erläuterung zum ursprünglichen Gesetzentwurf war explizit darauf eingegangen worden, dass dem ukrainischen Volk seit langem die russische Ideologie in vielen Lebensbereichen aufgezwungen wurde – nicht zuletzt auch, wenn es um die Einhaltung des julianischen Kalenders bei einigen Feiertagen wie Weihnachten geht. Das ist nun Geschichte. „Alle ukrainische Christen, Orthodoxe und Katholiken, werden nun zusammen mit der zivilisierten Welt feiern – und nicht mit Moskau“, betonte die oppositionelle Parlamentsabgeordnete Iryna Geraschtschenko.

Um den Weihnachtsbaum auf dem Sophienplatz hatte es in der Ukraine einige Diskussionen gegeben.
Um den Weihnachtsbaum auf dem Sophienplatz hatte es in der Ukraine einige Diskussionen gegeben. © AFP | ANATOLII STEPANOV

Wer mit den Menschen auf dem Kiewer Sophienplatz spricht – gleich dort, wo der große Weihnachtsbaum steht, dem zeigt sich eine bunte Mischung aus Besorgnis, Planungsunsicherheit und vorsichtigem Optimismus. „Das Land ist zweifelllos in einer schwierigen Phase“, erzählt eine mitteljährige Frau, die mit ihrer Tochter über den Platz spaziert. „Doch irgendwie möchte man daran glauben, dass alles am Ende gut sein wird. Wir haben schon so viel durchgemacht.“

Was aber sofort auffält, ist die Tatsache, dass nur die Wenigsten konkrete Pläne haben für Weihnachten und Neujahr. Zwar wollen sich viele Menschen an Neujahr mit Freunden zusammenzufinden, aber zustandekommen werden die Treffen wohl erst in letzter Minute – immerhin drohen jederzeit neue Angriffe. Das sagt viel aus über den ukrainischen Alltag 22 Monate nach Kriegsbeginn.

Russland-Reportagen von Jan Jessen