Berlin. Die LNG-Schiffe helfen, den Ausfall russischen Gases auszugleichen. Doch was noch kommen soll, sei „überdimensioniert“, sagen Experten.

Der zweite Winter nach dem russischen Überfall auf die neigt sich dem Ende entgegen, und schon jetzt ist klar: Auch in diesem Winter muss in Deutschland niemand wegen des Krieges frieren. Die deutsche Gasversorgung ist trotz der weggebrochenen russischen Lieferungen stabil, auch, weil die Bundesregierung in großer Eile an den Küsten die Möglichkeit zum Import von Flüssiggas per Schiff geschaffen hat.

Doch in dem Bemühen, die Pipelines zu ersetzen, ist man nach Ansicht von Experten bei diesem Ausbau zu weit gegangen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat zum Jahrestag den Gasmarkt in Deutschland und Europa, den Verbrauch und die Auslastung der -bestehenden LNG-Terminals analysiert und kommt zu dem Schluss, dass die LNG-Ausbaupläne der Bundesregierung „überdimensioniert“ seien.

Winter 2023/2024: „Zu keinem Zeitpunkt die Gefahr einer Gasknappheit“

Für den Winter 2023/24 bestand „zu keinem Zeitpunkt die Gefahr einer Gasknappheit“, heißt es in dem Papier, das dieser Redaktion vorliegt. Die Füllstände der Gasspeicher in Deutschland und der EU würden ausreichen, um auch in den möglicherweise noch sehr kalten Monaten Februar und März 2024 sowohl Deutschland als auch Osteuropa ausreichend zu versorgen. „Daher ist zu erwarten, dass die Kapazitäten zum Winterbeginn 2024/25 wieder komplett aufgefüllt werden können“, so das DIW-Team.

Die Analyse blickt auch auf die Nutzung der drei bereits bestehenden schwimmenden LNG-Terminals: Diese seien in Deutschland nur zur Hälfte ausgelastet worden, schreibt das DIW. Nimmt man die Terminals in Deutschland, Polen, Belgien, den Niederlanden und Italien zusammen, liegt die Auslastung bei etwa zwei Dritteln. Selbst wenn die Gasnachfrage wegen extremer Kälte stark gestiegen wäre, hätte demnach durch eine höhere Auslastung der Terminals und aus den Reserven in den Speichern genug Gas bezogen werden können.

Das DIW zieht daraus den Schluss, dass die Ausbaupläne der Bundesregierung für weitere schwimmende und stationäre Anlagen zum Import von Flüssiggas zu weit gehen. Insbesondere den stark umstrittenen geplanten Standort Mukran auf Rügen hat der Bericht dabei im Blick. Dessen Notwendigkeit hatte die Bundesregierung unter anderem mit der Struktur des Gasnetzes und der einfacheren Versorgung Ostdeutschlands begründet. Es bestünden „keine strukturellen Netzengpässe“ innerhalb Deutschlands, „die ein Terminal auf Rügen rechtfertigen würden“, heißt es dagegen im Bericht. Der Aufbau von Importinfrastrukturen dort sei weder notwendig noch kosteneffizient.

Die LNG-Pläne für Rügen sind hart umkämpft

Unter allen Standorten, an denen noch schwimmende oder feste Importterminals für LNG in Deutschland entstehen sollen, ist Mukran auf Rügen am heftigsten umkämpft. Umweltschützer fürchten um die Natur in den Schutzgebieten des Greifswalder Boddens, die durch den Pipelinebau zur Küste empfindlich gestört werden könnte. Die Inselbewohner sorgen sich auch um negative Folgen für den Tourismus auf Rügen. Mukran soll das schwimmende Terminal in Lubmin ersetzen, das einzige an der deutschen Ostsee. Das dortige LNG-Schiff war im Schnitt zu etwa 20 Prozent ausgelastet.

Ende Februar kam die fast 300 Meter lange „Energos Power“ vor Mukran im Nordosten Rügens an. Das Spezialschiff habe den Industriehafen erreicht, teilte der künftige Betreiber des Terminals, die Deutsche Regas, mit. Damit haben den Angaben zufolge auch die Vorbereitungen für den Probebetrieb begonnen. Doch die Kritik reißt nicht ab.

Das DIW kritisiert auch den Aufbau stationärer Terminals. „Feste Terminals rechnen sich nur über Jahrzehnte im Betrieb, aber bis dahin müssen wir längst aus Gas als Energieträger ausgestiegen sein“, sagt Claudia Kemfert, Forschungsdirektorin der Abteilung Energie am DIW. „Das sind ‚stranded assets‘, in den Sand gesetzte Investitionen, die da getätigt werden.“ Insgesamt sind drei feste Terminals geplant, die die Schiffe zum Teil ersetzen sollen. Kemfert sieht die Lage der deutschen Gasversorgung sogar so entspannt, dass kein Grund mehr bestehe für die Alarmstufe des Notfallplans Gas, die die Bundesregierung im Sommer 2022 ausgerufen hatte. „Eine Gas-Mangellage liegt nicht vor und ist auch nicht absehbar“, sagt sie. „Es ist an der Zeit, den Gasnotfallplan aufzuheben.“

Dass die bestehenden Kapazitäten nicht ausgelastet sind, sehen andere Experten positiv, aber nicht zwingend als Argument gegen weiteren Ausbau. Spielraum bei der Auslastung bedeute, „dass wir auch eine höhere Nachfrage oder Pipelineprobleme noch über zusätzliche Importe hätten kompensieren können“, sagt Georg Zachmann, Energiespezialist des Thinktanks Bruegel. Wie viele Terminals man wo brauche, sei keine einfache Frage. „Sicher ist aber, dass eine optimale europäische Antwort weniger Terminals benötigt als rein nationale Lösungen der Küstenländer“, sagt er. So könnte Deutschland beispielsweise mit Polen bei den Ostseeterminals kooperieren.

Nur China baut mehr LNG-Importinfrastruktur aus als Deutschland

Im internationalen Vergleich würde Deutschland, wo man sich lange auf russisches Pipeline-Gas verlassen hatte, mit den aktuellen Ausbauplänen mehr als nur aufholen beim Aufbau von Flüssiggas-Infrastruktur. „Nach China ist Deutschland weltweit das Land, das am meisten neue LNG-Importkapazität schafft“, sagt Sophia Heyne von der Umweltschutzorganisation Urgewald.

Urgewald betreibt die Global Oil and Gas Exit List (GOGEL), eine umfangreiche Datenbank, die auf Grundlage öffentlicher Quellen neue Gas- und Ölprojekte in der ganzen Welt verfolgt. Der deutsche LNG-Boom hebt sich laut Heyne deutlich ab von den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern. Italien, das nach Deutschland in Europa am intensivsten LNG-Importterminals ausbaut, plant weniger als die Hälfte dessen, was in der Bundesrepublik vorgesehen ist.

„Es gab deutliche Verschiebungen bei den LNG-Lieferstrukturen seit der russischen Invasion“, sagt Heyne. „Der Ausbau von Importkapazitäten in Europa kurbelt in anderen Ländern den Ausbau von LNG-Exportanlagen an.“ Das sehe man zum Beispiel in den USA. Global hielten sich der Ausbau von Export- und Importanlagen derzeit etwa die Waage, insgesamt aber gäbe es fast doppelt so viele bestehende Kapazitäten für den Import von Flüssiggas wie für den Export. „Neben den massiven Schäden, die der Ausbau für Menschen, Umwelt und Klima verursacht, ist es sehr fraglich, ob all diese Anlagen am Ende überhaupt ausgelastet werden“, sagt deshalb Heyne. „LNG-Projekte haben daher ein hohes Risiko, Investitionsruinen zu werden.“

Im Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) hält man trotz allem an den Plänen fest. „Jede Errichtung eines schwimmenden Terminals ist von großer Bedeutung, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten“, sagt eine Sprecherin auf Anfrage. Die Planungen dienten nicht nur dazu, einen Sicherheitspuffer zu schaffen, sondern seien auch im Sinne der europäischen Solidarität.

Noch immer beziehen einige EU-Staaten russisches Gas per Pipeline, in Österreich kamen 2023 zwei Drittel der Gasimporte aus Russland. Sollten diese Lieferungen ausfallen, so das Kalkül der deutschen Bundesregierung, müssten die europäischen Nachbarn auch über Deutschland mit Gas versorgt werden. Aus Norwegen, das zum wichtigsten Lieferanten aufgestiegen ist, könnten aufgrund der dortigen Kapazitäten die Lieferungen nicht weiter erhöht werden, über belgische und niederländische LNG-Terminals könne wegen begrenzter Leitungskapazitäten nicht mehr Gas kommen, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

Auch auf das Terminal in Rügen will man nicht verzichten: „Der Standort Mukran ist zudem besonders geeignet, um Gas in die mittel- und osteuropäischen Nachbarländer zu liefern“, heißt es. Noch in der ersten Jahreshälfte sollen deshalb zwei LNG-Schiffe hier ihren Betrieb aufnehmen.