Brüssel. Der Waffenhunger ist groß, doch die europäische Rüstungsindustrie kann den Bedarf nicht decken. So entsteht eine brisante Abhängigkeit.

Deutschland und Europa rüsten wegen der russischen Bedrohung in Riesenschritten auf. Während die Bundeswehr in den nächsten Jahren für 100 Milliarden Euro unter anderem moderne US-Kampfjets F-35, Panzerhaubitzen und Leopard-Kampfpanzer kauft, haben auch unsere Nachbarn üppige Bestellzettel für ihre Armeen abgegeben: Frankreich etwa beschafft 42 neue Kampfjets vom Typ Rafaele, modernisiert seinen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ und hat über hundert neue Caesar-Haubitzen geordert.

Oder Polen: Mit über tausend neuen Kampfpanzern, 700 Panzerhaubitzen und 50 Kampfflugzeugen will unser Nachbar angesichts der russischen Aggression zur größten Landstreitmacht Europas werden. Die gewaltigen Investitionen in die Verteidigung rückt auch eine am Montag veröffentlichte Studie des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri in den Blickpunkt. Allein Europas Waffenimporte haben sich demnach über fünf Jahre berechnet beinahe verdoppelt.

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In Europa habe die Einfuhr von Rüstungsgütern von 2019 bis 2023 um etwa 94 Prozent im Vergleich zu 2014 bis 2018 zugelegt, heißt es in der Studie. Insgesamt sei der globale Waffentransfer aller Staaten dagegen leicht um 3,3 Prozent zurückgegangen, weil etwa afrikanische Staaten ihre Bestellungen reduzierten. Allerdings fließen in die Sipri-Zahlen für Europa auch die Waffenimporte der Ukraine ein – das Land war mit 23 Prozent der größte Importeur in Europa.

Europa rüstet massiv auf – USA sind der größte Profiteur

Die Staaten der Europäischen Union haben schon seit 2015 ihre Verteidigungsanstrengungen massiv gesteigert – eine Reaktion auf die russische Besetzung der ukrainischen Krim 2014. Die Gesamtausgaben der EU-Staaten für Verteidigung stiegen seitdem von 150 auf 240 Milliarden Euro jährlich, zeigen Daten der Europäischen Verteidigungsagentur EDA. Russlands Militärausgaben vor dem Krieg werden auf 90 Milliarden Euro im Jahr geschätzt, die Zahlen sind allerdings nur bedingt vergleichbar.

Länder in Europa importieren wegen Ukraine-Kriegs deutlich mehr Waffen

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    Die Bestellungen, die Europas Staaten in diesem Zeitraum außerhalb ihrer Landesgrenzen aufgegeben hätten, summierten sich allein auf 800 Kampfjets und Kampfhubschrauber, sagt Sipri-Rüstungsexperte Pieter Wezeman. „In den vergangenen zwei Jahren haben wir außerdem eine viel größere Nachfrage nach Luftverteidigungssystemen gesehen, ausgelöst durch die russischen Raketen-Offensiven gegen die Ukraine.“ Da Russland auch künftig eine massive Bedrohung darstellen werde, würden die Europäer sicher weiter neue Aufträge erteilen.

    Das Problem: Die europäische Rüstungsindustrie kann so schnell nicht liefern. Deshalb werden nach Angaben der EU-Kommission 78 Prozent der Waffenbestellungen, die die EU-Staaten seit Beginn des Ukraine-Krieges ausgelöst haben, außerhalb des vereinten Europa aufgegeben – mit 63 Prozent liefern die USA den Löwenanteil. Die Vereinigten Staaten sind laut Sipri-Studie ohnehin mit Abstand der größte Waffenexporteur weltweit, ihr Anteil stieg auf 42 Prozent aller Rüstungslieferungen auf der Erde. Es folgen Frankreich, Russland, China und Deutschland (mit dem relativ kleinen Anteil von 5,6 Prozent).

    Deutschland kaufte israelisches Flugabwehrsystem Arrow

    Doch auch die Bundeswehr hat für die aktuellen Beschaffungen viel in den USA geordert. Dazu gehören etwa die 35 F-35 Kampfjets für über acht Milliarden Euro oder 60 schwere Chinook-Transporthubschrauber. Weitere Beschaffungsprojekte zielen zum Beispiel auf den deutschen Schützenpanzer Puma, den Seefernaufklärer Poseidon oder den Flak-Panzer vom Typ Skyranger. Deutschland bezieht daneben Waffen vor allem aus Israel (etwa das neue Flugabwehr-System Arrow) und Großbritannien.

    Ein Transporthubschrauber des Typs Chinook CH-47F: Er wird künftig als schweren Transporthubschrauber (STH) auch von der Bundeswehr eingesetzt.
    Ein Transporthubschrauber des Typs Chinook CH-47F: Er wird künftig als schweren Transporthubschrauber (STH) auch von der Bundeswehr eingesetzt. © picture alliance/dpa/Boeing | Emad Aljumah/Moment RF

    Der Anteil der EU-Produzenten an der europäischen Rüstung seit Kriegsbeginn liegt dagegen bei überschaubaren 22 Prozent. Deutschland verhält sich aus europäischer Perspektive noch vorbildlich, laut einer Studie des französischen Instituts für Internationale Beziehungen und Strategien (Iris) bezog die Bundeswehr seit Anfang 2022 immerhin Waffen für 11,5 Milliarden Euro aus dem europäischen Ausland – Frankreich dagegen bestellte nur für 2,5 Milliarden Euro bei seinen Nachbarn.

    Die EU-Kommission hat vor wenigen Tagen eine neue Strategie vorgelegt mit dem Ziel, die europäische Rüstungsproduktion massiv zu steigern und die Abhängigkeit von den USA zu verringern – bis 2030 soll mindestens die Hälfte der Rüstungsgüter auf dem europäischen Markt beschafft werden.

    Deutschlands Verteidigungsetat müsste ab 2028 stark steigen

    Der hohe Anteil an Einkäufen in den USA und anderswo sei „nicht mehr tragbar, wenn es überhaupt jemals tragbar war“, meint Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager. „Wir müssen mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen.“ Das ist allerdings nur ein Problem. Ein anderes: Wie das alles finanzieren? Diese Frage plagt nicht nur die Bundesregierung, auch anderswo gibt es Diskussionen über die Belastbarkeit der Verteidigungsversprechen – etwa in Polen.

    Polen hat Kampfpanzer vom Typ Abrams in den USA bestellt. Das Land plant eine starke Aufrüstung für über 200 Milliarden Euro.
    Polen hat Kampfpanzer vom Typ Abrams in den USA bestellt. Das Land plant eine starke Aufrüstung für über 200 Milliarden Euro. © AFP | WOJTEK RADWANSKI

    Doch steht Deutschland besonders unter Druck: Das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro, das schon zu zwei Dritteln vertraglich gebunden ist, deckt nicht einmal den Nachholbedarf der Bundeswehr ab, geschweige denn zukünftige Aufgaben. Um die Zusagen Deutschlands an die Nato einzuhalten, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, müsste der Verteidigungsetat des Bundes ab 2028 drastisch steigen, womöglich um bis zu 56 Milliarden Euro jährlich – woher das Geld kommen soll, ist unklar. Und schon für das Jahr 2025 fehlen Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach den bisherigen Haushaltsentwürfen fünf bis sechs Milliarden Euro.