Erfurt. Der mit den Stimmen der AfD ins Amt gekommene Regierungschef Thomas Kemmerich (FDP) kündigt 24 Stunden später seinen Rückzug an. Ein Blick auf die Ereignisse.

In der Thüringer Politik ist schon viel geschehen in den vergangenen Jahren. Es gab Affären, Skandale und Dramen – und ja, auch einige Rücktritte von Ministerpräsidenten. Doch das, was in dieser Woche passierte, das gab es noch nie in diesem Land und wohl auch noch nicht in der Bundesrepublik.

Es ist Donnerstag, kurz nach 14 Uhr. Vor der Staatskanzlei in Erfurt protestieren Hunderte Schüler, Studenten und Bürger. „Schäm dich Kemmerich“, steht auf einem Plakat.

Drinnen, im Bürgersaal, tritt Kemmerich, Vorname Thomas, vor die Kameras. Gut 24 Stunden vorher hat er im Landtag seinen Amtseid als Ministerpräsident abgelegt. Nun steht er erstmals hinter dem silbernen Pult, hinter dem fünf Jahre der Linke Bodo Ramelow stand – und verkündet, dass er nicht mehr Regierungschef sein wolle.

Seine FDP-Fraktion, die er bis Mittwoch führte, wolle die Auflösung des Landtags beantragen, sagt er. Er wolle Neuwahlen herbeiführen, „um damit den Makel der Unterstützung durch die AfD vom Amt des Ministerpräsidenten“ zu nehmen.

Wie kam es zur Kehrtwende?

Es ist die Sensation nach der Sensation. Einen Tag nach der ersten Wahl eines bundesdeutschen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der extremen Rechten ist seine Amtszeit de facto auch schon wieder vorbei. Wie kam es dazu?

Der Abend zuvor. Eine Menschenkette umgibt die Staatskanzlei, gut 1000 Thüringer sind gekommen, Sprechchöre schallen. „Wer hat uns verraten? Freie Demokraten!“, ist zu hören. Und: „Nicht mein Ministerpräsident!“

Im Innenhof steht der vormalige linke Staatskanzleiminister Benjamin Hoff. Er hat sein Büro ausgeräumt. Gleich will er mit Freunden etwas essen und trinken und einfach den Kopf frei kriegen. Die Regierungszentrale sei weiter arbeitsfähig, sagt Hoff. Die Mitarbeiter, die jetzt für einen neuen Chef Dienst tun, seien exzellent. Eine Bedienstete ist den Tränen nahe.

Im Barocksaal gibt Kemmerich Interviews – der ARD, dem ZDF. Der Friseurunternehmer aus Thüringen ist das Thema in den Hauptnachrichten. Alles hängst jetzt daran, was er entscheidet, nicht nur eine künftige Regierung in Thüringen, sondern auch die Bundesregierung. Die SPD übt maximalen Druck auf die Bundes-CDU aus, die diesen Druck auf die Thüringer Union weitergibt.

Gewaltiger Gegenwind bis hin zu Drohungen

Der Gegenwind ist zu dieser Zeit schon gewaltig, reicht bis hin zu Drohungen gegen den neuen Ministerpräsidenten. Aber Kemmerich scheint von der Sache weiterhin überzeugt, sagt: „Ich bin teilweise selber erschrocken über die Reaktionen. Aber wir werden uns der Verantwortung stellen.“ Die Arbeit beginne erst. Die Demokraten sollten auch wissen, „dass Neuwahlen keine Option sind“.

Am Donnerstagmorgen dann reist Christian Lindner nach Erfurt. Er will Kemmerich zum Rücktritt überreden. Er komme mit dem Zug 9.45 Uhr am Hauptbahnhof an, heißt es. Doch statt des Bundesvorsitzenden der FDP steigt Katrin Göring-Eckardt aus dem ICE. Die Thüringer Grünen-Bundestagsabgeordnete, die in Berlin die Fraktion leitet. Sie ist gekommen, um mit den Thüringer Grünen-Abgeordneten zu sprechen und weil sie hofft, mithelfen zu können, „dass wir hier zu einer vernünftigen Lösung kommen“, sagt sie. Und damit der Regierungschef „von Gnaden der Rechten“ zurücktritt.

Rot-Rot-Grüne Spitzen beraten weiteres Vorgehen

Im Landtag treffen sich die bisherigen Koalitionsfraktionen von Linke, SPD und Grünen. Auch Malte Krückels kommt. Er ist immer noch Staatssekretär in der Staatskanzlei; Kemmerich, sagt er, habe ihn als politischen Beamten zum Bleiben aufgefordert. Somit ist der Linke quasi Amtschef der Regierungszentrale eines FDP-Ministerpräsidenten. Auch die anderen Staatssekretäre haben Schreiben vom Ministerpräsidenten erhalten. Sie sollen in den ministerlosen Ministerien die Führung übernehmen.

In der vierten Etage des Landtags treffen sich die rot-rot-grünen Spitzen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Auch Ramelow ist gekommen, trägt Wollpulli anstelle des Jacketts. Der abgewählte Ministerpräsident wird von Mitarbeitern und Sicherheitsbeamten abgeschirmt. Er möchte nicht gefilmt oder fotografiert werden, steht für ein Gespräch nicht zur Verfügung. Den Chef habe das Ganze sehr mitgenommen, sagt ein Vertrauter. Weniger der Verlust des Amtes, sondern dass der Freistaat jetzt dabei sei, von Rechten übernommen zu werden. Im Anschluss an die Beratungen fordern Spitzenvertreter von Linke, SPD und Grüne Kemmerich zum Rücktritt auf. Linke-Vize Steffen Dittes sagt, Ramelow stehe weiter als Kandidat zur Verfügung.

Lindner stellt Kemmerich Ultimatum

Es ist Mittag geworden. Lindner und Kemmerich sitzen in einem Erfurter Hotel beieinander, in einem Raum sind Stühle für die Pressekonferenz bereitgestellt. Wie später bekannt wird, stellt der Bundesvorsitzende dem Ministerpräsidenten ein Ultimatum: Trittst du nicht zurück, dann tue ich es. Kemmerich hat damit das Schicksal seiner gesamten Partei in seiner Hand.

Um die beiden herum herrscht Chaos. Eine offizielle Einladung der FDP zur Pressekonferenz gibt es nicht, die Journalisten informieren sich gegenseitig per SMS und Telefon. Um 13 Uhr soll es ein Statement der beiden Politiker geben.

Doch dann wird die Pressekonferenz verschoben. 13.15 Uhr. 13.30 Uhr. 13.45 Uhr. Dann heißt es, Lindner trete allein auf, danach werde Kemmerich um 14 Uhr in der Staatskanzlei sprechen. Schließlich wird verlautbart, dass Lindner erst später reden werde.

Der inzwischen 40-köpfige Tross der Kameramänner, Journalisten und Tonleute eilt in die nahe Regierungsstraße, in den Bürgersaal – und erlebt dort mit, wie Geschichte geschrieben wird. Kemmerich, der am Abend zuvor noch fest entschlossen war, eine Regierung zu bilden, AfD-Stimmen hin oder her, ist über Nacht zum demokratischen Staatsmann gereift.

Und zum Opfer.

Denn Schuld an allem ist nun die AfD, die mit „einem perfiden Trick“ versuchte, „die Demokratie zu beschädigen.“ Er wisse: „Demokraten brauchen demokratische Mehrheiten – die sich offensichtlich in diesem Parlament nicht herstellen lassen.“ Und schließlich: „Eine Zusammenarbeit mit der AfD gab es nicht, gibt es nicht und wird es nicht geben.“

Der schwierige Weg aus dem Dilemma

Erst auf Nachfrage spricht Kemmerich von Rücktritt. „Der Rücktritt ist unumgänglich. Die Auflösung des Parlaments ist unumgänglich.“

Doch so einfach ist das nicht, erstens wegen der Verfassung und zweitens wegen der nötigen Mehrheiten im Parlament. Denn nur ein Drittel der 90 Abgeordneten kann Neuwahlen beantragen – und zwei Drittel müssen dann zustimmen. Der einfachere Weg wäre die Vertrauensfrage im Landtag. Verliert der Ministerpräsident diese Abstimmung und wird binnen 30 Tagen kein Nachfolger gewählt, gibt es automatisch Neuwahlen.

Auf Nachfrage sagt Kemmerich, dass er bereit sei, die Vertrauensfrage zu stellen, falls es nicht die nötige Mehrheit für eine Auflösung des Parlaments gebe.

Dann geht er, der Ministerpräsident.

Denn trotz seines eher nur halb erklärten Rücktritts bleibt Kemmerich geschäftsführend im Amt, bis ein Nachfolger gewählt ist. Wer immer das auch sein mag.

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