Moskau. Sie wurden in Strafkolonien rekrutiert, um in der Ukraine zu kämpfen. Nun sind die ersten Wagner-Söldner zurück – mit ernsten Folgen.

Der 28-jährige Iwan R. ist zurück, seitdem lebt das kleine Dorf in der russischen Region Kirow in Angst. Betrunken geht Iwan mit einer Axt durch die Straßen. „Ich werde alle töten, werde alle abschlachten“, ruft er. Vorübergehend wird er festgenommen. In einem Bericht eines lokalen Fernsehsenders sind Bilder einer Überwachungskamera zu sehen. Iwan R. schlägt mit seiner Axt die Fensterscheiben zweier geparkter Autos ein. Schließlich wird die Leiche einer Rentnerin aus der nahe gelegenen Stadt Vyatskiye Polyany gefunden.

Laut Lokalmedien soll Iwan R. den Mord bereits gestanden haben. Er war früher in einer Strafkolonie, 2020 verurteilt wegen Mordes zu 14 Jahren verschärfter Haft, berichtet das Onlinemedium Mediazona. Dann meldete er sich freiwillig als Kämpfer bei der Söldner-Gruppe Wagner, die in der Ukraine kämpft. Während eines Urlaubs von der Front verübte er in seinem Heimatdorf den Mord an der Rentnerin.

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„Es ist schade, dass er ein Verbrechen begangen hat“, kommentiert Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin den Mord. „Und natürlich sind wir bereit, die Strafverfolgungsbehörden in Bezug auf jeden unserer ehemaligen Kämpfer zu unterstützen.“ Für seine „Spezialoperation“ in der Ukraine hat Russland nach Schätzungen der Bürgerrechtsorganisation „Russland hinter Gittern“ rund 50.000 Häftlinge rekrutiert. Sie kämpfen größtenteils für die Söldner-Gruppe Wagner und gelten als Freiwillige.

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Prigoschin versprach Häftlingen die Freiheit – oder den Tod

Mehr als 5000 von ihnen sind inzwischen laut Prigoschin begnadigt worden. Und nur 0,31 Prozent dieser vorbestraften Kriegsheimkehrer seien im ersten Monat rückfällig geworden, so der Wagner-Chef. Meist seien sie gegen Kriegsgegner in Russland handgreiflich geworden. „Wir haben die Kriminalität in Russland auf ein Zehntel gesenkt und die ehemaligen Häftlinge besser erzogen als die Pioniere zu Sowjetzeiten“, behauptete der 61-Jährige.

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin spricht vor seinen Rekruten. Etwa 5000 von ihnen sind inzwischen nach Russland zurückgekehrt.
Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin spricht vor seinen Rekruten. Etwa 5000 von ihnen sind inzwischen nach Russland zurückgekehrt. © AFP | Handout

Der Wagner-Chef hatte verurteilte Schwerverbrecher – darunter auch Mörder und Drogendealer – in den Gefängnissen mit dem Versprechen gelockt, dass sie nach Ableistung eines halbjährigen Kriegsdienstes begnadigt würden. Erste Berichte über die Rekrutierung von Gefangenen aus russischen Straflagern gab es im Juni 2022.

Ein Video, online gestellt im September, zeigt einen Mann auf dem Exerzierplatz eines Lagers, der Jewgeni Prigoschin zumindest ähnlich sieht. Der Mann spricht mit den Gefangenen und erklärt die Bedingungen: Sechs Monate im Kampf an vorderster Front, wer überlebt wird begnadigt, muss nicht in die Strafkolonie zurück. „Es ist eure Chance, hier rauszukommen“, sagt Prigoschin in einem Video, das sein Pressedienst verbreitete. Wer mit mir geht, der kommt frei oder stirbt, geht aber nicht wieder hinter Gitter.“

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Unter Rückkehrern sind Mörder, Betrüger und Drogenhändler

Überlebt haben Menschen wie Alexander T. 2018 wurde der Geschäftsmann festgenommen. Er hatte den Mord an seiner Nichte vorbereitet. Es ging um einen Erbschaftsstreit, berichtet das Online-Portal 47news. Seiner Meinung nach wollte sie zu viel Geld – also heuerte er einen Killer an. Dann stellte sich heraus, dass er bereits 2005 weitere Morde in Auftrag gegeben hatte. Ein Geschäftspartner, dessen Frau und die beiden Kinder wurden getötet.

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2021 wurde Alexander T. zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt. Anderthalb Jahre war er in der Strafkolonie, im Juli letzten Jahres schloss er sich der Wagner-Gruppe an. Im Dezember dann kehrte er als freier Mann nach Sankt Petersburg zurück. Fälle wie diese gibt es viele. Die Söldner-Gruppe Wagner rekrutierte Gefangene, egal für welches Delikt sie im Straflager waren. Ausgeschlossen waren nur Sexualstraftäter.

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin versprach den Häftlingen die Freiheit – sofern sie überleben.
Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin versprach den Häftlingen die Freiheit – sofern sie überleben. © AFP | Handout

Wagner-Söldner wurde auch der 34-jährige Anatoli S. Er war zu neun Jahren Haft verurteilt worden, hatte einen Freund umgebracht. Oder der Tierarzt Dmitri K. aus Sankt Petersburg. 2019 wurde er zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er beschuldigt wurde, Amphetamine hergestellt und verkauft zu haben. Oder Alexander S., zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wegen Raubüberfällen auf Juweliergeschäfte.

Soziologin: Erfahrung aus Tschetschenien-Kriegen macht wenig Hoffnung

Viele Menschen haben Angst vor den Kriminellen, die jetzt – nach ihrem Kampfeinsatz – in die russische Gesellschaft zurückkehren. Eine Angst, die die Soziologin Asmik Novikowa verstehen kann. Noch sei es zu früh, Aussagen darüber zu machen, wie die Wagner-Kämpfer in die Gesellschaft zurückkehren werden. „Jeder wird anders sein“, sagte sie. „Es besteht die Gefahr alarmistischer Verallgemeinerungen, und das ist nicht ganz richtig. Zumindest jetzt.“

Erforscht aber hat Novikowa die Rückkehr von Soldaten aus den Tschetschenien-Kriegen. „Wenn ich die Erfahrungen mit der Wiedereingliederung von Veteranen des Tschetschenien-Konflikts studiere, fällt es mir schwer zu sagen, dass es vielen gelungen ist, erfolgreich ins zivile Leben zurückzukehren.“ Vieles hänge von den Familien ab, so die Soziologin. „Wenn die Familie ihre Rolle bei der Rehabilitation unterstützt und vor allem versteht, ist eine erfolgreiche Wiedereingliederung möglich.“

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Für Jewegeni Prigoschin sind die ehemaligen Häftlinge keine Kriminellen mehr, sondern Helden. „Sie haben ihre Schuld mit Blut reingewaschen“, schreibt er. Seiner Verantwortung sei er sich bewusst, Wagner kümmere sich weiter um die Ex-Kämpfer, sagt er. Gewöhnliche Kriminelle, die jetzt Helden sind. Die Rekrutierung von Strafgefangenen hat die Söldner-Gruppe Wagner in der Zwischenzeit eingestellt. Anfang März gab Prigoschin bekannt, man habe in 42 russischen Städten Rekrutierungszentren eröffnet, in denen sich Freiwillige für den Einsatz in der Ukraine melden könnten.

Russland muss mit Helden leben, die schlimmste Verbrechen begangen haben

Russland aber wird weiter mit Geschichten wieder der von Olga Pavlowa leben müssen, die das Online-Portal Kholod erzählt. Im Oktober 2022 sieht die Rentnerin aus der Region Nowgorod ein Video: Fünf Männer sitzen auf einem Rattan-Sofa und unterhalten sich. Zwei haben keine Beine, einer hat keine Füße und einer hat keine Arme. Der einzige Gesprächspartner ohne Verletzung Prigoschin. Am nächsten Tag sollen die vier Verwundeten Tapferkeitsmedaillen, Pässe und Zertifikate über die Begnadigung erhalten.

Einer der so geehrten Wagner-Veteranen ist Stanislaw B. Olga Pavlowa erkennt das Gesicht. Er erschlug vor 10 Jahren ihren Bruder. Sie fand die Leiche, wusch die Blutspuren auf. B. und sein Opfer lebten in Weliki Nowgorod in benachbarten Straßen. Bei einem Saufgelage im Haus des Bruders von Olga kam es zum Streit, B. schlug mit einem Schürhaken zu, quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens. Dafür wurde B. zu 23 Jahren Haft verurteilt. Jetzt ist er in Russland ein Held.

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