Berlin. Orcas zählen zu den mächtigsten Raubtieren der Welt. Immer wieder greifen die Killerwale auch Schiffe an. Ein Experte erklärt, warum.

Spätestens seit dem Kult-Film „Der Weiße Hai“ sind Angriffe im Meer auf Menschen eine weit verbreitete Furcht. Im Mittelmeerraum, rund um die Straße von Gibraltar und den Süden Portugals, kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Angriffen auf Segelboote. Keine Haie, sondern eine Familie von Orcas steckt hinter den Attacken. Warum Killerwale so gerne auf Segelboote losgehen, und ob sich dieses Verhalten in der Zukunft auf weitere Orca-Familien weltweit ausbreiten könnte, erklärt der Segler, Autor und Orca-Experte, Thomas Käsbohrer im Interview.

Warum greifen die Orcas Boote an?

Thomas Käsbohrer: Dazu gibt es mittlerweile unzählige Theorien. Es tauchen immer neue Aspekte auf, die das Ganze rätselhafter machen. Im Vordergrund stehen Theorien wie Jagd-Training, Katz-und-Maus-Spiel, Gehirnerkrankung, Schmerz oder, dass Tiere einfach etwas gefunden haben, das Ihnen Spaß macht. Es ist bei den Orcas offensichtlich gerade in, mit Booten zu interagieren.

Es gibt auch die Theorie, dass die Säuger aus Rache angreifen, da ihnen etwa von Fischern Schmerz zugefügt wurde. Und letztlich könnte es schlichtweg um Hunger gehen, da die Orcas in Nahrungskonkurrenz zum Menschen stehen.

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Gibt es in der Region denn nicht mehr genügend zu Fressen?

Käsbohrer: Mensch und Orca haben die gleiche Beute: Fisch. Auch aufgrund von Überfischung gibt es davon immer weniger. In British Columbia (Kanada) zum Beispiel sind die dortigen Orcas auf Lachs spezialisiert, und davon gibt es immer weniger. Die Tiere leiden dort Hunger. Vor Gibraltar und Südwestspanien, wo die Angriffe stattfinden, gab es etwa 2010 eine Knappheit an Thunfisch, von dem sich die dort ansässigen Orcas ernähren.

Das hat sich mittlerweile aber wieder gebessert. Der Thunfisch ist und bleibt aber ihre Nahrungsquelle. Jede Orca-Population ist da sehr eingeschränkt, denn sie wechseln ihre Beutevorlieben nicht. Sie bleiben bei einem Beutetier – und wenn dieses nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist, hungern sie. So ist es mit den Orcas in British Columbia.

Thomas Käsbohrer ist selbst passionierter Segler.
Thomas Käsbohrer ist selbst passionierter Segler. © © millemari. | © millemari.

Im vergangenen Jahr kam außerdem die Theorie auf, dass die Orcas lediglich aus Spieltrieb handeln. Was sagen Sie dazu?

Käsbohrer: Hinter den Angriffen steckt Aggression, ob das jetzt im Spiel passiert oder für die Jagd, sei einmal dahingestellt. Sie haben herausgefunden, wie man Yachten angreift. In der Regel wird dabei das Ruder zerstört. Auffällig ist auch, dass 80 Prozent aller Angriffe auf einen bestimmten Bootstyp abzielen. Darauf haben sich die Orcas festgelegt wie ein Facharbeiter, der sich auf das Zerlegen eines bestimmten Autotyps spezialisiert hat.

Ihr Angriffsziel sind Segelyachten, die acht bis 13 Meter lang und aus GFK (glasfaserverstärktem Kunststoff, Anm. d. Red.) gefertigt sind und außerdem ein frei stehendes Spatenruder und eine frei stehende Kielfinne haben. Die werden dann einfach geknackt.

„Herrenabende“ für Attacken-Training

Wie kommen die Tiere überhaupt darauf?

Käsbohrer: Meeressäuger wie Orcas sind sozial neugierig, interagieren und trainieren miteinander. Dabei veranstalten sie auch „Herrenabende“ oder machen Tieftauchwettbewerbe. Da sagt quasi jemand: „Guck mal, was ich für tollen Blödsinn entdeckt habe, wir probieren mal rum, wer besser ist.“ So kann es derzeit auch mit den Yachtrudern sein.

Wollen die Wale die Schiffe überhaupt versenken?

Käsbohrer: Die Tiere wissen, was sie tun. Die sind überhaupt nicht doof. Es geht um die Erkenntnis: „Wir können da eine Wirkung erzielen. Da gibt es etwas, das machen wir, und dann passiert etwas.“ Das ist wie beim Menschen auch Kalkül. Die Angriffe laufen immer ähnlich, aber nie gleich ab.

In Videos sieht man, dass die Orcas ganz ruhig und konzentriert vorgehen und sich auf das Ruder des Schiffes konzentrieren. Das ist nicht wie ein weißer Hai im Blutrausch. Die Orcas probieren immer neue Varianten aus. Ein Skipper aus NRW hat mir erzählt, dass die Wale mit seinem Schiff Pingpong gespielt haben, als er im Schlepp eines Seenotkreuzers war.

Orcas leben in fast allen Meeren des Planets.
Orcas leben in fast allen Meeren des Planets. © iStock | Wirestock

Könnte man den Orcas nicht einfach eine Alternative anbieten oder sie mit Fressen ablenken?

Käsbohrer: Das würde wohl kaum funktionieren. Das ist wie bei den Kindern. Wenn das Kind entschieden hat, dass es die rosafarbene Rassel will, braucht man nicht mit dem gelben Papierflieger anzukommen. Alternativen interessieren die Orcas nicht. Auch ein Fass voller Heringe würde da nicht helfen. Die Orcas sind auf Thunfisch fixiert und auf nichts anderes. Umlernen geht nicht oder nur sehr schwer.

Wie viele Orcas sind derzeit „Störenfriede“?

Käsbohrer: Es handelt sich dabei um eine Gruppe von 50 Orcas vor Gibraltar. Eigentlich gehen die Tiere nicht weit ins Mittelmeer hinein. Das hat sich im Sommer 2023 geändert. Zuerst waren die Orcas auch im Winter vor Ort, dann zogen sie teilweise auch die spanische Südküste hoch bis ins Mittelmeer. Bis Marbella, wo sie ebenfalls Ruder demolierten.

Orcas attackieren regelmäßig: Vier gekenterte Schiffe in 2023

Wie häufig kommt es zu Orcaattacken?

Käsbohrer: In den vergangenen Jahren wurden vier Yachten durch Orca-Angriffe versenkt. Bis 2022 hatten wir mehrere Hundert Fälle beschädigter Ruder. Diese Zahlen stammen jedoch von Tierschützern, weswegen es eine erhebliche Dunkelziffer geben dürfte. Im Vergleich zu Schadensfällen etwa auf der Ostsee ist das aber immer noch eine sehr kleine Nummer.

Wird das in Zukunft zunehmen?

Käsbohrer: Die Situation wird weiter dynamisch bleiben. Es handelt sich um ein lokales Phänomen, das sich ins westliche Mittelmeer, aber auch im Nordatlantik bis Norwegen verbreiten könnte. Dann könnte es noch mehr Fälle geben. Aber irgendwann in zwei bis fünf Jahren wird es sich wieder verlaufen.

Warum ist das so?

Käsbohrer: So war es bei den bisherigen Modeerscheinungen der Fall. Es gab zum Beispiel einen Delfin in einer australischen Bucht, der sich auf der Schwanzflosse rückwärts bewegen konnte. Zunächst war unklar, wo er das gelernt hat. Nachforschungen haben dann ergeben, dass er kurzzeitig im Delfinarium war und sich das von trainierten Delfinen abgeguckt hatte. Andere freilebende Delfine in dieser Bucht haben dieses Verhalten dann übernommen. Nach zwei bis drei Generationen war das dann aber vorbei, weil es die Tiere weder bei der Partner- noch bei der Nahrungssuche weiterbringt. So wird es bei den Orcas vermutlich auch ablaufen.

Wer mehr zu dem Thema lesen möchte: Thomas Käsbohrer hat das Buch „Das Rätsel der Orcas“ verfasst. Millemari Verlag, 24,95 Euro.
Wer mehr zu dem Thema lesen möchte: Thomas Käsbohrer hat das Buch „Das Rätsel der Orcas“ verfasst. Millemari Verlag, 24,95 Euro. © © millemari | © millemari

Kann man sagen, welche Orcas am häufigsten angreifen?

Käsbohrer: Häufig wird gesagt, dass es sich hauptsächlich um junge Männchen handelt. Das ist nicht haltbar. Ich habe zum Beispiel mit einem Naturschützer von einer Walschutzstation gesprochen. Sein Boot und er wurden bereits 2020 eine halbe Stunde lang von einem Orca-Weibchen vermöbelt. 20 Prozent der Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, dass bei den Angriffen Jungtiere mit dabei waren. Es schien so, als würden die Großen den Kleinen zeigen, wie man ein Boot angeht.

Wie sollte man sich auf einem Schiff verhalten, wenn man angegriffen wird?

Käsbohrer: Am Anfang gab es die Empfehlung, sich möglichst unsichtbar zu machen, den Motor abzustellen und sich tot zu stellen. Das hat sich im letzten Jahr geändert. Dann wurde behauptet, man solle so schnell wie möglich die Segel bergen und unter Motor in Richtung Flachwasser gehen, da die Tiere selten unter einer Wassertiefe von 20 Metern angreifen. Das macht an den betroffenen Küstenabschnitten aber nicht jeder, da es in der Region einige Untiefen gibt. Mittlerweile sind die Boote auch schon mal in Konvois unterwegs, wobei sich Skipper im Fall einer Interaktion gegenseitig helfen.

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