Berlin. Im Shingal gibt es nichts für den 28-jährigen Allawi Hussein – trotzdem ist der Jeside in seine Heimat zurückgekehrt. Nun bereut er es.

Die jungen Leute sitzen in dem Rohbau, der ihr neues Zuhause ist. Blanker Beton, unverputzte Wände, freiliegende Leitungen, keine Tür. Allawi Hussein kauert im Schneidersitz auf einer der dünnen Matratzen. „Hier gibt es Schlangen und Skorpione, ich lebe in einem verdammten Zoo.“ Er und seine Geschwister mussten zurückkommen in die alte Heimat, ihr Vater wollte es so. Wenn das Familienoberhaupt etwas entscheidet, müssen die Kinder gehorchen, so will es die Tradition. Ob sie hier im Nordwesten des Irak eine Zukunft finden, hat auch Auswirkungen auf Deutschland.

Im Sommer ist die Shingal-Region eine Gluthölle. Die Temperaturen steigen auf 50 Grad. Staubteufel tanzen über den ausgedörrten Feldern. Ab und an weht der Wind vertrocknetes Gestrüpp über die Straße. Die Luft flimmert. Die Narben des Krieges sind noch überall sichtbar. Verbrannte Autowracks, Ruinen. Südlich von Sinune erhebt sich der Rücken des Bergzuges, der der Region ihren Namen gegeben hat. Im Sommer vor neun Jahren retteten sich Zehntausende Menschen auf diesen Berg, in panischer Angst vor den Fanatikern des sogenannten Islamischen Staats (IS).

Allawi Hussein (rechts) sitzt mit seinen Geschwistern und Cousinen in einem Rohbau in der Kleinstadt Sinune.
Allawi Hussein (rechts) sitzt mit seinen Geschwistern und Cousinen in einem Rohbau in der Kleinstadt Sinune. © Jan Jessen | Jan Jessen

Shingal ist der Siedlungsschwerpunkt der Jesiden, Angehörigen einer religiösen Minderheit, die immer wieder Verfolgung und Unterdrückung erleiden musste. Für die Extremisten des IS sind sie Teufelsanbeter. Als sich die schwarze Flut des Terrors 2014 über den Irak ergießt, ermorden und verschleppen die Fanatiker Tausende Jesidinnen und Jesiden und treiben Hunderttausende in die Flucht. Kurdisches und irakisches Militär befreit die Region etwas mehr als ein Jahr später. Zurückgekehrt sind bis heute aber nur wenige Bewohner Shingals. Viele leben noch immer in einem der mehr als zwei Dutzend Flüchtlingscamps in der östlich gelegenen Autonomen Region Kurdistan.

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Allawi Hussein über Shingal: „Es gibt hier keine Sicherheit“

Shingal ist ein Pulverfass. Weil die Region strategisch wichtig ist, kämpfen hier verschiedene Gruppierungen um Einfluss. Mal sind sie mit dem Iran verbündet, mal mit der kurdischen Regionalregierung in Erbil, mal mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Auch die irakische Armee und Bundespolizei sind vor Ort. „Du siehst an jedem Checkpoint eine andere Fahne, hörst eine andere Sprache. Es gibt hier keine Sicherheit“, sagt Allawi Hussein, der junge Mann aus dem Rohbau.

Die Familie des 28-Jährigen stammt aus Tell Ezer auf der anderen Seite des Shingal-Gebirgszuges. Im Sommer 2007 jagte in seiner Kleinstadt ein Selbstmordattentäter der Al Kaida einen als Hilfslieferung getarnten Lastwagen in die Luft. Fast 800 Menschen starben. Sieben Jahre später vertrieb der IS die Überlebenden des Massakers aus Tell Ezer. Husseins Onkel und zwei seiner Cousins wurden auf offener Straße erschossen. Das Video von den Morden hat er noch auf seinem Telefon.

Als die Terroristen des IS im August 2014 die Region überrollen, flieht die Familie Hussein erst auf den Berg, dann über Syrien weiter in das autonome Kurdistan im Irak. Acht Jahre leben Allawi Hussein, seine Geschwister und die Eltern in Baad‘re, einer jesidischen Kleinstadt. „Anfang Juni hat mein Vater entschieden, dass wir zurückgehen“, erzählt der junge Mann. Er spricht Englisch und Französisch, doch es nützt ihm wenig. Im Shingal gibt es wenig Jobs. Jetzt lebt die Familie in Sinune, der Besitzer des Rohbaus hat den Husseins gestattet, das Haus zu beziehen. Allawi Hussein wirkt verzweifelt. „Es war ein Fehler, zurückzukommen.“ Im Shingal gibt es nichts für ihn.

Die Geschwister Amscha (26), Alawi (28) und Kamal (21) Hussein vor dem Rohbau des Hauses, in dem sie nun leben. Die Region Shingal ist für Jesiden extrem gefährlich.
Die Geschwister Amscha (26), Alawi (28) und Kamal (21) Hussein vor dem Rohbau des Hauses, in dem sie nun leben. Die Region Shingal ist für Jesiden extrem gefährlich. © Jan Jessen | Jan Jessen

Ministerin Baerbock versprach Hilfe beim Wiederaufbau

Im Frühjahr war die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im Shingal, wenige Monate nachdem Deutschland die Verbrechen an den Jesiden als Völkermord anerkannt hatte. Baerbock besuchte Sinune und die Kleinstadt Kodscho, die vor neun Jahren zum Schauplatz eines der schlimmsten Massaker des IS wurde. Die Terroristen ermordeten dort über 500 Menschen und entführten 1200 Frauen und Mädchen. Baerbock versprach Unterstützung beim Wiederaufbau und Hilfe bei er Räumung der Sprengfallen und nicht explodierten Bomben.

Insbesondere in den Dörfern südlich des Berges stellen sie eine lebensbedrohliche Gefahr für die dar, die zurückkehren. „Die Hilfe, die Deutschland leistet, ist nicht effektiv und nachhaltig“, kritisiert Irfan Ortac. Er ist der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden in Deutschland. In keinem Land außerhalb des Irak leben mehr Jesiden als in Deutschland. 240.000 sollen es aktuell sein, und es werden täglich mehr. Etwa die Hälfte der etwa 6300 Asylsuchenden, die bislang in diesem Jahr aus dem Irak gekommen sind, sind Jesiden, schätzt Ortac. Es brauche einen Masterplan für die Region, Deutschland müsse politische Verantwortung übernehmen, fordert er. An den Völkermord wird an diesem Donnerstag (3. August) mit einer einer zentralen Gedenkveranstaltung in Mainz erinnert.

Bilder erinnern an die Ermordeten: Tausende Jesiden starben bei dem Völkermord 2014, Hunderttausende wurden vertrieben. Sicher sind die Jesiden auch heute noch nicht.
Bilder erinnern an die Ermordeten: Tausende Jesiden starben bei dem Völkermord 2014, Hunderttausende wurden vertrieben. Sicher sind die Jesiden auch heute noch nicht. © Jan Jessen | Jan Jessen

Hass gegen Jesiden, Drohungen gegen Flüchtlingscamps

Ohne eine politische Lösung der komplizierten Situation im Shingal wird es dort keine Zukunft geben. Wenn es im Shingal langfristig keine Perspektive gibt, werden sich noch mehr Jesiden auf den Weg nach Europa machen. Südlich des Berges lebt Saadullah Hasan Aabas mit seiner Familie in der Kleinstadt Tel Benat. Der 65-Jährige hat mit seiner Familie sechs Jahre in einem Flüchtlingscamp in Kurdistan gewohnt. Zwei seiner Enkelkinder kamen in dem Camp zur Welt. Als sie im Sommer vor zwei Jahren nach Tel Benat mit acht Familien in ihre Heimatstadt zurückkehrten, fanden sie eine Trümmerwüste vor.

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Seine Frau Dijwar Omar Qasim hatte in den ersten Nächten Angst. „Jedes Mal, wenn der Mond in unser Haus geschienen hat, hatte ich Panik. Ich habe gedacht, Daesh kommt wieder.“ Daesh: So nennen sie hier den IS. Die Terroristen haben 41 Mitglieder seiner Großfamilie getötet, erzählt Aabas. „Aber wir mussten hierhin zurück. Das ist unsere Heimat.“ Die Familie baute das zerstörte Gehöft wieder auf. Sie bauen jetzt Weizen an. Ihr Einkommen ist schmal, aber es reicht zum Leben.

Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Attentaten auf Jesidinnen und Jesiden.
Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Attentaten auf Jesidinnen und Jesiden. © Jan Jessen | Jan Jessen

Mittlerweile ist knapp die Hälfte der ursprünglichen Einwohnerschaft Tel Benats wieder zu Hause, etwa 250 Familien. „Es ist gut hier“, sagt das Familienoberhaupt. „Die Araber haben die Region verlassen.“ Als der IS vor neun Jahren kam, schlossen sich viele arabische Familien der Terrororganisation an. Der Hass gegen die Jesiden bricht sich auch heute noch Bahn. Im April verbreiteten Hetzprediger die Falschnachricht, Jesiden hätten im Shingal eine Moschee angezündet. Im Internet diskutierten muslimische Extremisten Angriffe auf Flüchtlingscamps und drohten mit einem neuen Völkermord. Ob die Familien Aabas und Hussein im Shingal Frieden finden werden, ist ungewiss.

Verbrannte Autowracks und Ruinen prägen das Bild von Sinune in der Shingal-Region im Nordwesten des Iraks.
Verbrannte Autowracks und Ruinen prägen das Bild von Sinune in der Shingal-Region im Nordwesten des Iraks. © Jan Jessen | Jan Jessen