Berlin. Bayerns Ministerpräsident will Koalition mit den Freien Wählern retten und hält an seinem Stellvertreter fest. Ein riskantes Vorgehen.

Es gibt da diesen schönen Begriff, der so schmeichelhaft ist für das politische Personal. Er steht für Güte und Strenge zugleich: Wer Ministerpräsident eines Bundeslandes wird, ist fortan auch der „Landesvater“. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ein Vater der Herr im Hause ist. Einer, der darauf achtet, dass es seinen Leuten gut geht. Der auch mal richtig böse werden und dann doch wieder verzeihen kann.

Markus Söder ist seit fünfeinhalb Jahren Ministerpräsident des Freistaats Bayern und spielt die Rolle des Landesvaters wie kaum ein anderer. Am Sonntag lud der CSU-Chef kurzfristig „aus aktuellem Anlass“ zu einem Statement in seine Münchener Staatskanzlei. Eine Woche lang hatte ihn die Causa Aiwanger beschäftigt. Also jene Affäre um ein antisemitisches Flugblatt, das vor dreieinhalb Jahrzehnten in der Schultasche von Söders Stellvertreter und Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von den Freien Wählern gefunden worden war und das Fragen nach der Geisteshaltung des zweiten Mannes im Freistaat aufwirft. In fünf Wochen wird dort ein neuer Landtag gewählt. Da geht es nicht nur um Aiwangers Zukunft, sondern auch um Söders.

Söder: „Das Ganze ist in der Tat 35 Jahre her“

Gütig und streng: So ist dann am Sonntag auch der Auftritt des Ministerpräsidenten. Söder belässt Aiwanger im Amt und spricht von einem „Abwägungsprozess“. Er sagt: „Ich habe es mir dabei nicht leicht gemacht.“ Antisemitismus habe keinen Platz in Bayern. Ihm sei es um ein „faires und geordnetes Verfahren“ gegangen. Aiwanger musste 25 Fragen schriftlich beantworten. Am Vorabend habe es ein „langes persönliches Gespräch“ gegeben, sagt Söder. Aiwangers Krisenmanagement in den vergangenen Tagen sei nicht glücklich gewesen.

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Söder führt aus, dass Aiwanger inzwischen um Entschuldigung für Fehler seiner Jugend gebeten habe. Er habe sich vom Flugblatt distanziert, Reue gezeigt und abermals versichert, dass es nicht von ihm stamme und er es auch nicht verbreitet habe. Das Gegenteil könne nicht bewiesen werden, sagt Söder. Aiwangers Bruder Helmut behauptet, dass er der Urheber gewesen sei. Söder sagt jetzt auch: „Seit dem Vorfall von damals gibt es nichts Vergleichbares.“ Und: „Das Ganze ist in der Tat 35 Jahre her. Kaum einer von uns ist heute noch so wie er mit 16 war.“ In der Gesamtabwägung sei er deshalb zum Schluss gekommen, dass eine Entlassung „nicht verhältnismäßig“ wäre.

Von einem „Schwamm drüber“ will der Ministerpräsident aber nichts wissen. Als Zeichen der Reue und Einsicht soll Aiwanger das Gespräch mit der jüdischen Gemeinschaft suchen. Der CSU-Chef betont, dass er die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen wolle. Und: „Es wird definitiv in Bayern kein Schwarz-Grün geben“.

Aiwanger soll Gespräch mit der jüdischen Gemeinschaft suchen

So endet erst einmal die Flugblatt-Affäre. Allerdings kann sich Söder auch nicht sicher sein, dass da nicht noch etwas nachkommt. Seit Tagen fördern verschiedene Medien immer weitere vermeintlich Details aus der Aiwangers Jugend zutage. Es ist davon die Rede, dass Aiwanger als Schüler öfter Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ mit in die Schule gebracht und Hitler-Reden imitiert habe. Von Hitler-Grüßen und Hakenkreuz-Schmierereien ist zu hören und von judenfeindlichen Witzen. All das fügt sich zu einem sehr unappetitlichen Bild.

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Es lässt sich kaum ausschließen, dass noch weitere Vorwürfe gegen Söders Stellvertreter erhoben werden. Nach Söders Auftritt vom Sonntag wäre dann nicht nur Aiwanger in Erklärungsnot, sondern auch der Ministerpräsident selbst. Ganz los wird Söder das Thema vermutlich ohnehin nicht bis zu den Landtagswahlen am 8. Oktober.

Ministerpräsident Markus Söder bei seinem Auftritt in München: Der CSU-Chef sagt, er habe sich die Entscheidung über seinen Stellvertreter Aiwanger „nicht leicht gemacht“.
Ministerpräsident Markus Söder bei seinem Auftritt in München: Der CSU-Chef sagt, er habe sich die Entscheidung über seinen Stellvertreter Aiwanger „nicht leicht gemacht“. © dpa | Sven Hoppe

Landtagswahl: Der CSU-Chef steht intern unter besonderer Beobachtung

Unklar ist zudem, wie die Wähler in Bayern auf die Vorgänge reagieren werden. Hubert Aiwanger hat in den vergangenen Tagen in seiner Anhängerschaft viel Zuspruch erfahren, seine Partei steht ohnehin geschlossen hinter ihm. Möglicherweise geht er sogar gestärkt aus der Affäre hervor. Und sollten sich bürgerliche CSU-Wähler von Söder abwenden, weil sie mit dessen Krisenmanagement nicht einverstanden sind, dann hätte der Ministerpräsident ein Problem.

Denn Söder steht in der eigenen Partei ohnehin unter besonderer Beobachtung: Bei der vorherigen Landtagswahl im Jahr 2018 hatte die CSU mit ihm als Zugpferd nur 37,2 Prozent der Stimmen geholt. Aus Sicht der erfolgsverwöhnten Partei war das eine Katastrophe. Söder muss das Ergebnis von 2018 nun unbedingt verbessern, mindestens aber halten. Gelingt ihm das nicht, würde dies seine Position schwächen. Fällt das Ergebnis sogar noch schlechter aus, wäre Söder sehr wahrscheinlich aus dem Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur für die Bundestagswahl.

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Und Aiwanger? Dessen Antworten auf Söders Fragenkatalog kann man seit Sonntag nachlesen, die bayerische Staatsregierung veröffentlichte sie auf ihrer Internetseite. An viele Details der Vorgänge von damals will sich Aiwanger nicht erinnern können. An andere aber erinnert er sich dann aber doch genau. Etwa daran, dass er und sein Bruder nach der Entdeckung des Flugblatts unter Schock gestanden und Angst vor Polizeibesuch im Elternhaus gehabt hätten. Aiwanger schreibt auch: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“

Am Sonntag, als Söder in München vor die Kameras tritt, ist Aiwanger schon wieder im Wahlkampf unterwegs. Im Bierzelt in Keferloh ist von Reue und Demut wenig zu spüren. Aiwanger sagt, man habe ihn „ertränken“ wollen. „Aber die Schmutzkampagne wird uns stärken. Wir haben ein reines Gewissen. Wir handeln nach der Maxime: tue recht und scheue niemanden.“