Karlsruhe. Es läuft nicht rund für die Grünen. Wahlen verloren, die Basis musste Kröten schlucken. Zerreißen die Delegierten ihr Spitzenpersonal?

Der Kreisverband Karlsruhe hat ein paar Erinnerungsstücke mitgebracht: Wahlplakate aus den Anfangszeiten der Partei hängen an Aufstellwänden in der Karlsruher Messe. Darauf wird aufgerufen zur Rettung des Waldes, oder daran erinnert, dass die Erde „von unseren Kindern nur geborgt“ sei. Markenkern der Grünen? „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“, wie es auf einem der Poster heißt.

Den mehr als 4000 Delegierten und Besuchern, die von Donnerstag bis Sonntag den bisher längsten und größten Parteitag der Grünen besuchen, steht damit eine praktische Hilfe zur Verfügung, um zu vergleichen, wo die Partei einst herkam – und wo sie heute ist.

Der innerparteiliche Wunsch, einmal darüber zu sprechen, wo und vor allem wofür man gerade steht, war zuletzt groß. Denn das Delegiertentreffen kommt in für die Partei schwierigen Zeiten. Hinter den Grünen liegt ein Jahr, in dem sie bei drei Landtagswahlen Verluste verzeichneten, in Berlin und Hessen sogar Regierungsbeteiligungen verloren.

Beim Parteitag der Grünen gibt es einigen Gesprächsbedarf

In der Ampel-Koalition wird die Liste der Gemeinsamkeiten, von Anfang an nicht lang, gerade immer kürzer. Und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts stehen zahlreiche Modernisierungs- und Klimaschutzprojekte der Partei auf der Kippe – und damit für viele der Kern dessen, wofür die Grünen sich an dieser Regierung beteiligt haben. Neben einer der turnusmäßigen Vorstandswahl und dem Beschluss des Wahlprogramms und der Liste für die Europawahl im kommenden Jahr gab es deshalb auch einigen Gesprächsbedarf.

Parteichef Omid Nouripour weiß, wie groß die Hoffnungen auf eine grüne Regierungsbeteiligung vor zwei Jahren waren, und auch, wie enttäuscht viele seiner Parteifreundinnen und -freunde zum Teil von den Kompromissen sind, die Ergebnis dieser Beteiligung waren. Der Bau von LNG-Terminals, die kurzzeitige Verlängerung der AKW-Laufzeiten, der Kohlekompromiss in NRW, dem unter einer Landesregierung mit grüner Beteiligung Lützerath zum Opfer fiel – die Liste, die innerparteiliche Kritiker aufzählen können, ist lang.

Omid Nouripour will, dass die Grünen „staatstragend“ sind

„Alle wissen, dass es nicht so einfach ist, auch emotional nicht“, sagte Nouripour am Freitag, zuweilen sei es in der Koalition „jenseits der Schmerzgrenze“ gewesen. Doch wichtig sei nicht, wie es der Partei damit gehe, sondern was im Land ankommt. „Es braucht eine Partei, die staatstragend ist“, sagte er. „Dass uns das zuweilen vorgeworfen wird, macht mich fertig. Es braucht eine Partei, die diesen Staat trägt.“ Die vergangenen zwei Jahre seien hart gewesen – die beiden nächsten würden noch härter werden.

Schon am Donnerstagabend hatte Nouripour den Parteitag in einer druckvollen Eröffnungsrede darauf eingeschworen, sich nicht in „die Nische“ nicht zurückdrängen zu lassen. „Viel Feind, viel Ehr“ reiche nicht, sagte Nouripour im Hinblick auf die – unbestritten vielen – Feindseligkeiten, die sich derzeit gegen die Grünen richten. Es brauche eine Kraft, die das Land zusammenhält. „Lasst uns ausstrahlen, dass wir offene Herzen, offene Arme, offene Augen und offene Ohren haben auch für Konzepte anderer“, appellierte er.

Dafür gab es am Donnerstag langen Applaus von den 825 Delegierten, am Freitag bestätigten sie Nouripour mit 79,1 Prozent als Parteichef. Co-Parteichefin Ricarda Lang war zuvor mit 82,3 Prozent wieder gewählt worden.

Dass Nouripour mit nicht ganz 80 Prozent unter seinem Ergebnis aus dem Februar 2022 blieb, lag auch daran, dass er – anders als Lang – einen Gegenkandidaten hatte.

Gute Stimmung beim grünen Spitzenpersonal – trotz miserablen Wahlergebnissen.
Gute Stimmung beim grünen Spitzenpersonal – trotz miserablen Wahlergebnissen. © imago/Chris Emil Janßen | IMAGO/Chris Emil Janssen

Das umstrittene Thema Migration wurde auf Samstagabend verschoben

Philipp Schmagold aus Schleswig-Holstein hatte vieles von dem angesprochen, was an der grünen Basis in den vergangenen Monaten für heftiges Zähneknirschen gesorgt hatte, die Abschaffung der Sektorziele im Klimaschutzgesetz des Bundes etwa, oder den härteren Kurs in der Migrationspolitik. „Wir Grüne sperren keine Familien hinter Gittern, die nach Europa geflüchtet sind“, sagte Schmagold in seiner Rede, und erhielt dafür immerhin Szenenapplaus von einem Teil der Halle.

Er stand damit ein Stück weit für die Rückkehr in die Nische, vor der Nouripour und am Vorabend auch Vizekanzler Robert Habeck gewarnt hatten. Eine Nische, die in den vergangenen Jahren deutlich größer geworden ist, als sie es einmal war. Trotz der durchwachsenen Koalitionsbilanz, trotz Heizungsgesetz und heftigen Angriffen in den Wahlkämpfen dieses Jahres stehen die Grünen in den bundesweiten Umfragen derzeit zwischen 13 und 16 Prozent. Eine treue Kernwählerschaft verhindert, dass die Partei tiefer abrutscht.

Doch folgen wollten ihm auf diesem Weg letztendlich nur rund 12 Prozent der Delegierten – ein Signal an die Parteispitze, dass ihr in der Regierungskrise von der Parteibasis kein ernstzunehmendes Ungemach droht.

Die Grüne Jugend will weitere Asylrechtsverschärfungen verhindern

Dabei war im Voraus vermutet worden, dass sich vor allem beim Thema Migration angestauter Unmut entladen könnte. Im Bemühen, eine Reform des europäischen Asylsystems nicht zu blockieren, hatten die Grünen in der Regierung weitgehende Verschärfungen auf EU-Ebene zugestimmt. In Deutschland hatten sie sich – trotz Bedenken etwa in der eigenen Fraktion zu den neuen Abschieberegeln aus dem Haus von Nancy Faeser – weitgehend hinter die Beschlüsse gestellt, die der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder vor einigen Wochen zum Thema Migration gefasst hatten.

Gegen den Vorwurf der grünen Blockade von der politischen Konkurrenz hatte das zwar nur bedingt verfangen. Erst in dieser Woche warf etwa FDP-Vizeparteichef Wolfgang Kubicki der Partei vor, in einem „kunterbunten Wolkenkuckucksheim“ zu leben, wenn es um Migration gehe.

Trotzdem dominierten öffentlich zuletzt grüne Stimmen wie von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, die in der Formel von „Humanität und Ordnung“ die Betonung in Richtung „Ordnung“ verschieben wollen.

Unter anderem der Parteinachwuchs von der Grünen Jugend ist mit dieser Entwicklung unglücklich. Die GJ, seit kurzem geführt von Svenja Appuhn und Katharina Stolla, hat einen Änderungsantrag eingebracht, der als Stoppschild dienen soll. „Weiteren Asylrechtsverschärfungen“, etwa Schnellverfahren an Außengrenzen, heißt es darin, dürften grüne Ministerinnen und Minister weder im Bund noch in den Ländern zustimmen.

Ob der Parteitag bereit sein würde, den Funktionsträgern der Partei derartige Beschränkungen aufzulegen, war am Freitag noch unklar. Die erwartete kontroverse Debatte war von der Parteitagsregie auf den späten Samstagabend verschoben worden.

Robert Habeck appellierte an die Delegierten: Situation „verträgt keine Spielerei“

Doch nach dem großen Aufstand der Basis fühlte sich die Stimmung in der Halle nicht an. Stattdessen schien die Partei bemüht, Wirtschaftsminister Robert Habeck recht zu geben. Der hatte am Donnerstag in einer Rede an das Verantwortungsbewusstsein seiner Mannschaft appelliert: „Was wir jetzt erleben, ist kein Spiel und verträgt keine Spielerei“, sagte er. „Es ist ernst und es braucht Ernsthaftigkeit.“ Mangelnde Ernsthaftigkeit wollen sich die Grünen nicht vorwerfen lassen.